Abschnitt X. Strafprozeß. Zeugen und Sachverständige. 721
Sechster Abschnitt. Zeugen.
§. 50. Ein ordnungsmäßig geladener Zeuge, welcher nicht erscheint, ist in die
durch das Ausbleiben verursachten Kosten, sowie zu einer Geldstrafe bis zu dreihundert
Mark, und für den Fall, daß diese nicht beigetrieben werden kann, zur Strafe der
Hast bis zu sechs Wochen zu verurtheilen. Auch ist die zwangsweise Vorführung des
Zeugen zulässig. Im Falle wiederholten Ausbleibens kann die Strafe noch einmal
erkannt werden.
Die Verurtheilung in Strafe und Kosten unterbleibt, wenn das Ausbleiben des
Zengen genügend entschuldigt ist. Erfolgt nachträglich genügende Entschuldigung, so
werden die gegen den Zeugen getroffenen Anordnungen wieder aufgehoben.
Die Befugniß zu diesen Maßregeln steht auch dem Untersuchungsrichter, dem
Amtsrichter im Vorverfahren, sowie dem beauftragten und ersuchten Richter zu.
Die Festsetzung und die Vollstreckung der Strafe gegen eine dem aktiven Heere
oder der aktiven Marine angehörende Militärperson erfolgt auf Ersuchen durch das
Militärgericht, die Vorführung einer solchen Person durch Ersuchen der Militärbehörde.
§. 51. Zur Verweigerung des Zeugnisses sind berechtigt:
1. der Verlobte 1) des Beschuldigten;
2. der Ebegatte des Beschuldigten, auch wenn die Ehe nicht mehr besteht;
3. diejenigen, welche mit dem Beschuldigten in gerader Linie verwandt, ver-
schwägert oder durch Adoption verbunden, oder in der Seitenlinie bis zum
dritten Grade verwandt oder bis zum zweiten Grade verschwägert sind, auch
wenn die Ehe, durch welche die Schwägerschaft begründet ist, nicht mehr
besteht.
Die bezeichneten Personen sind vor jeder Vernehmung über ihr Recht zur Ver-
weigerung des Zeugnisses zu belehren. Sie können den Verzicht auf dieses Recht
auch während der Vernehmung widerrufen.
§s. 52. Zur Verweigerung des Zeugnisses sind ferner berechtigt:
1. Geistliche in Ansehung desjenigen, was ihnen bei Ausübung der Seelsorge
anvertraut ist;
2. Vertheidiger des Beschuldigten in Ansehung desjenigen, was ihnen in dieser
ihrer Eigenschaft anvertraut ist;
3. Rechtsanwälte und Aerzte in Ansehung desjenigen, was ihnen bei Ausübung
ihres Berufes anvertraut ist.
Die unter Nr. 2, 3 bezeichneten Personen dürfen das Zeugniß nicht verweigern,
wenn sie von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbunden sind.
§. 53. Oeffentliche Beamte, auch wenn sie nicht mehr im Dienste sind,
dürfen über Umstände, auf welche sich ihre Pflicht zur Amtsverschwiegenheit bezieht?),
als Zeugen nur mit Genehmigung ihrer vorgesetzten Dienstbehörde oder der ihnen
zuletzt vorgesetzt gewesenen Dienstbehörde vernommen werden. Für den Reichskanzler
bedarf es der Genehmigung des Kaisers, für die Minister der Genehmigung des
Landesherrn, fur die Mitglieder der Senate der freien Hansestädte der Genehmigung
des Senats.
Die Genehmigung darf nur versagt werden, wenn die Ablegung des Zeugnisses
dem Wohle des Reiches oder eines Bundesstaates Nachtheil bereiten würde.
§. 54. Jeder Zeuge kann die Auskunft auf solche Fragen verweigern, deren
Beantwortung ihm selbst oder einem der im §. 51 Nr. 1—3 bezeichneten Angehörigen
die Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung zuziehen würde.
§. 55. Die Thatsache, auf welche der Zeuge die Verweigerung des Zeugnisses
in den Fällen der §§. 51, 52, 54 stützt, ist auf Verlangen glaubhaft zu machen.
Es genügt die eidliche Versicherung des Zengen.
1) Es genügt jedes ernstlich gemeinte Eheversprechen, E. Crim. X. 117.
2) Ob die Umstände solche sind, entscheidet im Zweifelfalle die vorgesetzte Be-
hörde, deren Ausspruch in dieser Beziehung für die Richter maßgebend ist, Erk. R.
G. 18. Sept. 1882 (E. Crim. VII. 74). #
Ueber die Ladung öffentlicher Beamten als Zeugen und Sachpverständige vergl.
St. M. E. 6. April 1833 (M. Bl. S. 80), Res. 17 Mai 1883 (J. M. Bl. S. 155),
Res. 28. Juli 1886 (M. Bl. S. 181, J. M. Bl. S. 137); 19. Febr. 1895
(J. M. Bl. S. 56).
Illing-Kaug, Handbuch I, 7. Aufl. 46