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nungen der neuen allgemein-deutschen Gesetzgebung. Im Jahre 1900 war die
Bevölkerungszahl auf 56367178, heute ist sie auf 68000000 angewachsen. Diese
gewaltige Volksmasse konnte das Reich in seinen Grenzen in der alten Weise
nicht mehr ernähren. Die Bevölkerungszunahme stellte dem deutschen Wirtschafts-
leben und damit auch der deutschen Politik ein gewaltiges Problem. Es mußte
gelöst werden, sollte der Überschuß an deutscher Kraft, den die Heimat nicht zu er-
halten imstande war, nicht fremden Ländern zugute kommen. Im Jahre 1883
wanderten etwa 173000 Deutsche aus; 1892 waren es 116339, 1898 nur noch
22221, und bei dieser letzten niedrigen Zahl ist es seither durchschnittlich ge-
blieben. Es konnte Deutschland also im Jahre 1883 einer um 22000000 geringeren
Menschenzahl weniger gute Existenzbedingungen gewähren als gegenwärtig seinen
68000000 Reichsangehörigen. In dem gleichen Zeitraum war der deutsche Handel
von etwa 6 Milliarden Mark Wert auf 22,54 Milliarden vor dem Kriege ge-
stiegen. Welthandel und Volksernährung stehen in unverkennbarem Zusammen-
hange. Selbstverständlich weniger durch die eingeführten Nahrungsmittel selbst.
als durch die vermehrte Arbeitsgelegenheit, die die mit dem Welthandel ver-
bundene Industrie zu gewähren vermag.
Die Entwicklung der Industrie in erster Linie hat das dem nationalen Leben
durch die Bevölkerungsvermehrung gestellte Problem der Lösung zugeführt, un-
beschadet der durch das überraschend geschwinde Entwicklungstempo älteren Ge-
bieten des volkswirtschaftlichen Lebens vorerst zugefügten Nachteile. Die enorme
Vermehrung und Vergrößerung der industriellen Betriebe, die heute Millionen
von Arbeitern und Angestellten beschäftigen, konnte nur erreicht werden dadurch,
daß sich die deutsche Industrie des Weltmarktes bemächtigte. Wäre sie angewiesen
geblieben auf die Verarbeitung der Rohstoffe, die der Kontinent liefert, und auf
den europäischen Markt für den Absatz ihrer Fabrikate, so könnte von den mo-
dernen Riesenbetrieben nicht die Rede sein, und es wären Millionen Deutscher,
die gegenwärtig unmittelbar durch die Industrie ihren Lebensunterhalt haben,
ohne Lohn und Brot. Nach den statistischen Erhebungen wurden im Jahre 1911
Rohstoffe für Industriezwecke im Werte von 5393 Millionen eingeführt und
fertige Waren ausgeführt von 5460 Millionen Mark. Hierzu kommt eine Aus-
fuhr von Rohstoffen, vor allem Bergwerkserzeugnissen, im Werte von 2205
Millionen. Nahrungs= und Genußmittel wurden vor dem Kriege für 3077
Millionen Mark ein-, für 1096 Millionen ausgeführt. Diese toten Zahlen ge-
winnen Leben, wenn bedacht wird, daß ein großes Stück deutschen Wohlergehens
an ihnen hängt, Existenz und Arbeit von Millionen unserer Mitbürger. Der
Welthandel vermittelt diese gewaltigen Warenmassen. Sie gehen nur zum ge-
ringen Teil auf den Land= und Wasserwegen des Festlandes, überwiegend über
das Meer auf den Fahrzeugen deutscher Reeder.
Industrie, Handel und Reederei haben dem alten deutschen Wirtschaftsleben
die neuen weltwirtschaftlichen Formen gewonnen, die das Reich auch politisch
hinausgeführt haben über die Ziele, die Fürst Bismarck der deutschen Staats-
kunst gesteckt hatte.
Das Netz unserer internationalen Beziehungen mußte sich .. ausdehnen
Fern gelegene überseeische Reiche, die uns in der Zeit der reinen Kontinentalpolitik
wenig zu kümmern brauchten, wurde von großer und größerer Bedeutung für uns.
Die Pflege guter, wenn möglich freundschaftlicher Beziehungen zu ihnen wurde eine
bedeutsame Pflicht unserer auswärtigen Politk.