156 IH. Buch. Der völkerrechtliche Verkehr innerhalb des Staatenverbandes.
Die Verjährung hat völkerrechtlich weder als acquisitive (als Ersitzung) noch
als extinctive die Kraft einer rechtserheblichen Tatsache.®)
Dic Rechtfertigung dieses auf den ersten Blick auffallenden Satzes
liegt in einem doppelten: a) in der Bedeutung, die der stillschwei-
genden Zustimmung desjenigen Staates, der durch eine Verschiebung
der völkerrechtlichen Beziehungen in seinen Interessen betroffen wird,
zukommt (unten IV 3); b) in der unmittelbar rechtbegründenden Wir-
kung, die auf dem Gebiete des Völkerrechts die nackte Tatsache, daher
auch die Gewalt, vor allem als Eroberung, hat (oben 8 1012). Die krie-
gerische Erwerbung eines fremden Staatsgebietes erstreckt, ganz abge-
sehen von dem Friedensvertrage, die Staatsgewalt des erobernden
Staates ohne weiteres auf das neuerworbene Gebiet, ohne daß es einer
Ersitzung im Sinne des Privatrechts, insbesondere also des Ablaufes
eines längeren Zeitraums, bedarf; und wenn ein Staat ohne Widerspruch
es zuläßt, daß seine Kolonien von einem andern Staat besetzt und ver-
waltet werden, so muß ein Verzicht auf die ihm zustehenden Rechte
angenommen werden, ohne daß erst die Verjährung seiner Ansprüche
durch den Ablauf der Zeit abgewartet zu werden braucht.
2. Willkürliche menschliche Handlungen. Unter diesen ireten, wie auf
dem Gebiete des nationalen Rechtes, zwei Gruppen hervor: die Rechtsgeschäfte
einerseits, von denen hier die Rede sein soll, und die Delikte andrerseits, die
unten in $ 25 behandelt werden. Neben den Rechtsgeschäften stehen die rechts-
geschäftsähnlichen Handlungen (‚‚natürliche Rechtshandlungen‘‘), unter welchen
die Eroberung als originäre Erwerbsart eine hervorragende Rolle spielt (oben
81012).
IV. Völkerrechtliches Rechtsgeschäft ist die auf die Herbeiführung einer
völkerrechtlichen Wirkung (Begründung, Aufhebung, Änderung eines völker-
rechtlichen Rechtsverhältnisses) gerichtete Willenserklärung.
Unter den Rechtsgeschäften sind die zweiseitigen, die Verträge,
von besonderer Bedeutung (unten $ 22). Die völkerrechtlichen Rechts-
geschäfte sind sämtlich Rechtsgeschäfte unter Lebenden, denn: ‚der
Staat stirbt nicht‘.
1. Die Willenserklärung muß von dem dazu berufenen Organ des Staates
ausgehen.
a) Ohne weitere Vollmacht sind das Staatshaupt und der Minister des Aus-
wärtigen zu jeder rechtsgeschäftlichen Willenserklärung befugt.
Auch das geisteskranke Staatshaupt kann, so lange es tatsächlich
an der Spitze seines Staates steht, eine Kriegserklärung mit allen recht-
6) Ebenso Gareis 88. Nys I143. Die gegenteilige Ansicht wird bezüglich
der acquisitiven Verjährung in der völkerrechtlichen Literatur vielfach vertreten;
vgl. Audinet, R. G.111313. Oppenheim 1308. Gegen sie spricht die Tatsache,
daß auch dem nationalen Stastsrechte, von besonderen Bestimmungen abgesehen,
das Rechtsinstitut der Verjährung fremdgeblieben ist.