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träge mit den Eingeborenen jagten einander. Von
allen Seiten war man bemüht, sich „Interessen-
sphären“ zu schaffen und sie zu festem Besitz um-
zugestalten. Der Begriff des „Hinterlandes“ ge-
wann eine ähnliche kolonialpolitische Bedentung
wie einst jener der Strommündung und des
Stromgebietes.
England ist zuletzt in diese Bewegung ein-
getreten; es hat trotzdem den Löwenanteil davon-
getragen. Hilfsmittel und Erfahrung seiner
Unternehmer, die älteren und umfassenderen Ver-
bindungen und die zahlreichen festen Stützpunkte,
die zur Verfügung standen, sicherten eine nicht
leicht auszugleichende Uberlegenheit. Stärker
und williger als irgendwo sonst stand hinter den
Gesellschaften der Staat. An die Stelle der
Kolonialflanheit trat rasch der „Imperialismus“,
getragen von der Kraft des englischen Volks-
willens. Ausschließlich konservative Ministerien
mit Parlamentsmajoritäten und Amtsperioden,
wie sie England bis dahin kaum erlebt hatte,
haben in dieser Zeit an der Spitze der Geschäfte
gestanden. Man fragte nicht mehr, ob die
Annerion dieses oder jenes Gebietes Nutzen
bringe. „Zum Vorteil oder Nachteil, ein Stolz
oder eine Last für die kommenden Geschlechter,
jetzt handelt es sich nur darum, die Hand auf
den Boden zu legen, damit ihn nicht der Fremde
besetzt.“ So faßte einer der gründlichsten Kenner
des gegenwärtigen englischen Kolonialbesitzes, ein
Mitglied des Kolonialamtes selbst, die Uber-
zeugung zusammen, von der seine Regierung sich
seit der Kongokonferenz hat leiten lassen.
Es hat denn auch kaum anderthalb Jahr-
zehnte gedauert, und Afrika war verteilt. Den
alten Kolonien des Südens ist nicht nur fast
alles Land bis zum Zambesi hinauf, sondern auch
über diesen Fluß hinaus am Nyassa entlang bis
zum Tanganjika und gegen die Quellen des
Kongo hin ein Gebiet größer als Madagaskar
angegliedert worden. Der Zambesi ist heute ein
britischer Fluß. Über den wichtigsten Routen
Livingstones weht Englands Flagge. Das Bet-
schuanenland hat Großbritannien sofort nach der
deutschen Besitzergreifung in Südwest okkupiert.
Der Selbständigkeit der Burenstaaten, die durch
die neuen englischen Erwerbungen fast ganz um-
klammert wurden, und deren neu entdeckte Gold-
felder das Unternehmertum mächtig anzogen, hat
Englands Ubermacht in den Jahren 1899 bis
1902 ein Ende gemacht. Dr. Jameson, dessen
verwirktes Leben 1896 von der Regierung des
Transvaalstaates erbeten werden mußte, ist heute
Ministerpräsident der Kapkolonie. Innerhalb
zweier Jahrzehnte ist der Umfang der süd-
afrikanischen Besitzungen Englands auf nahezu
das Vierfache ihres früheren Bestandes gewachsen.
In der Betätigung englischen Unternehmersinns
ist die Ara Livingstone von einer Ara Ceeil
Rhodes abgelöst worden.
Und noch größere Fortschritte hat die erste
Kolonialmacht der Welt in allerjüngster Zeit im
übrigen Afrika gemacht. Der Okkupation Agyptens
wurde zunächst nur Wahrung englischer Unter-
nehmerrechte und Sicherung des Suezkanals als
Ziel gesteckt. Gegenüber der mohammedanischen
Bewegung, die gleichzeitig der als Mahdi auf-
tretende Dongolamann in den oberen und mittleren
Nilgebieten entfachte, verhielt sich England kaum
mehr als defensiv. Gordon fiel am 26. Jannar
1885 bei der Verteidigung Kartums, weil die
englische Hilfe lässig und unzureichend heranzog.
Der Mahdi starb nicht lange nachher. Aber erst
später, als die unter dem Propheten so mächtige
Bewegung abflaute und immer siegreicher unter
Lord Salisburys Führung die Auffassung durch-
drang, daß es richtig sei, so viel wie möglich von
Afrika zu nehmen, hat man unter kluger Be-
nutzung der Verhältnisse die alten ägyptischen An-
sprüche wieder aufgenommen und zu tatsächlicher
Geltung gebracht. Kitchener Pascha eroberte im
September 1898 Kartum zurück und als in dem-
selben Jahre der Franzose Marchand Faschoda,
6 bis 700 Kilometer oberhalb Kartums, besetzte,
ließ die englische Regierung keinen Zweifel dar-
über, daß sie als Vertreterin und Inhaberin
Agyptens so ziemlich das gesamte Stromgebiet
des Weißen Nils bis hinauf zu den Seen, aus
denen er seinen Ursprung nimmt, und einschließ-
lich Kordofans und Darfurs als britischen Besitz
ansehe.
Kurz zuvor hatte sie im Hinterlande der alten
Niederlassungen an der Goldküste und der Sierra
Leone ihre Ansprüche binnenwärts weithin fest-
gelegt, hatte vom Niger und Benue aus die be-
völkertsten Teile des Sudan bis zum Tsadsee und
zur Sahara hin für britischen Besitz erklärt und
in Ostafrika das Auftreten der Deutschen zum
Anlaß genommen, sich neben ihnen nordwärts
bis zum Jubflusse und landeinwärts bis zum
Victoria-Rjansa und jenseit desselben in Uganda
festzusetzen. Der oberste Nil ließ sich jetzt nicht
nur vom Mittelmeer, sondern auch vom Indischen
Ozean her über britisches Gebiet erreichen, und
Abessinien sowie Italiens neue Erwerbungen be-
haupteten nach der gleichzeitigen Erweiterung des
überlieferten britischen Besitzes an der Somali-
küste kaum noch eine andere Stellung als die
von Enklaven im nordostafrikanischen Kolonial-
reiche Großbritanniens. Zwischen dem südlichsten
Nil= und dem nördlichsten Zambesibesitz liegen
kaum noch acht Breitengrade von den siebenzig,
über die Afrika sich ausdehnt. Von einer Räu-
mung Agyptens kann nicht mehr die Rede sein,
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