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das Jahr 1870 uns alle von Nord und Süd
auf immer geeinigt hatte und ein Staatswesen
entstanden war, das auch zu einer Aktion nach
außen geeignet war, traten an den Fürsten Bis-
marck schon alsbald unternehmende deutsche Kauf-
leute heran, die ihm koloniale Erwerbungen vor-
schlugen. Und der große Kanzler war sich auch
von vornherein klar darüber, daß eine bedentende
Nation koloniale Besitzungen nicht nur haben
dürfe, sondern er sprach auch offen aus, daß sie
solche haben müsse. Aber noch hatte die Nation
zu viele Aufgaben innerer Politik zu lösen, noch
mußte sie sich erst im neuen Hause einleben, noch
waren viele wichtige Institutionen unseres Staats-,
Rechts= und Wirtschaftslebens zu schaffen, ehe der
Blick nach außen gerichtet werden konnte; aber
wie manche erhaltene Außerung des Fürsten
Bismark bezeugt, hat er den Gedanken an ein
überseeisches Deutschland nie aus dem Auge ver-
loren.
Die Ereignisse, die zu der Erwerbung unserer
verschiedenen Kolonien geführt haben, sind in
diesem Kreise zu bekannt, als daß ich sie wieder-
holen sollte. Es ist wahr, die Welt war ziemlich
verteilt, als den Deutschen die Möglichkeit der
überseeischen Ausdehnung erschien. Es war zweck-
los, die Blicke auf Amerika, Asien oder Australien
zu richten; hier war überall ein fester Besitz,
waren abgegrenzte Interessensphären enropäischer
Freunde oder Nachbarn. Aber es ist ein Irr-
tum, dem nicht genug entgegengetreten werden
kann, weil er immer und überall wieder ver-
breitet wird, als ob wir in Afrika zu kurz
gekommen seien und sozusagen die Brosamen
hätten aufpicken müssen, die uns die anderen
Völker übrig gelassen hätten. Dem ist nicht so;
die heutige Gestaltung der Besitzverhältnisse und
Machtverteilung im schwarzen Kontinent ist die
Folge der deutschen Initiative, und die deutschen
Erwerbungen waren es, die das Signal gaben
auch für die anderen Nationen, noch freie Ge-
biete in Besitz zu nehmen.
Mit Ehren kann der Deutschen Kolonial=
Gesellschaft und ihrer leitenden Männer gedacht
werden für das, was sie in der Vorbereitung
der Afrika-Erwerbungen geleistet hat, mit Dank
derjenigen Männer, die an Ort und Stelle die
Besitzergreifung durchgeführt und in manchen
Fällen Opfer ihrer Aufgabe geworden sind.
Aber die spröde Natur eines damals kaum, ja
heute noch nicht durchweg erforschten Landes
einerseits und der binnenländische Sinn eines
großen Teils unseres Volkes anderseits machten
es schwer, sehr schwer, in den Gedanken und
Empfindungen der Heimat dem Kolonialbesitz
diejenige Stelle zu erringen, denjenigen Boden
zu bereiten, auf dem die junge Pflanze sich ent-
falten konnte. Wie wenig waren wir vorbereitet
auf koloniale Aufgaben! Nur unermüdliche
Tätigkeit bei Regierung und Kolonialfreunden
brachte es zuwege, daß allmählich das Bewußt-
sein von der Wichtigkeit unseres Besitzes sich
weitere Schichten eroberte. Was hierbei die
Deutsche Kolonialgesellschaft in mühevoller Arbeit
geleistet hat, darf ihr nicht vergessen werden.
Und diese Arbeit war um so schwerer, als Rück-
schläge, Fehler und Mißerfolge nicht ausblieben.
Wir besaßen in unserem Volke wenig kolonial-
erfahrene Männer, in unserer Beamtenschaft keine.
Wir wußten nichts von der Psychologie und
Wirtschaftsweise Schutzbefohlener, wir waren uns
unklar über die Produktionsmethoden, die für die
Schutzgebiete angepaßt sind, und über die besten
Wege zu ihrer Erschließung. Wir konnten nicht
wie die Engländer auf jahrhundertelange Er-
fahrung und ein Reservoir geschulter Kolonial-
beamter zurückgreifen. Auch waren wir uns im
Unklaren über die Machtmittel, die erforderlich
sind, um einen Kolonialbesitz zu verwalten, fünf-
mal so groß wie die Heimat, mit 12 bis 14
Millionen Einwohnern, die zum Teil nie einem
Fremden gehorcht, nahezu nirgends einem ge-
ordneten Staatswesen angehört hatten. Auch
fehlte uns die Kenntnis der Sprache. All dies
hatten wir zu schaffen und verstehen zu lernen.
Wer solche Schwierigkeiten gerecht übersieht und
einschätzt, kann nur sagen, daß in den Jahren
vieles und gutes geleistet ist, das hinter den
Leistungen anderer Nationen nicht zurücksteht,
wie ich jetzt aus eigener Anschauung versichern
kann, und er kann sagen, daß kein Grund vor-
handen ist, trotz mancher ehrlich zugestandenen
Mißgriffe, mancher unbehaglichen Vorkommnisse,
dem deutschen Volke die Freude an seinem
Kolonialbesitz zu verleiden. Daß in vielen Wider-
wärtigkeiten das Interesse nicht erlahmt ist, daß
unter dem Eindruck unwillkommener Nachrichten
keine Entmutigung eingetreten ist, und daß das
Verständnis für die zu überwindenden Schwierig-
keiten gewachsen und damit eine gerechtere Stim-
mung Platz gegriffen hat, ist zum guten Teil
Ihrer Gesellschaft zu danken.
Manchem allerdings ging und geht noch
heute die Entwicklung unseres Kolonialbesitzes
viel zu langsam, und der Wert der Kolonien
wird vielfach herabgesetzt, weil sie keine Früchte
bringen. Es ist wahr, große und schwere Opfer
an Geld und Blut hat die Nation heldenmütig
gebracht, besonders in jener schweren Krise, die
unser Südwestafrika-Schutzgebiet getroffen hat.
Aber wenn Sie zum Vergleich die kolonialen
Erfahrungen der anderen Nationen heranziehen,
sehen Sie, daß überall der gleiche Vorgang sich
abspielt, daß Kolonien nicht nur besetzt,