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jeher der Grundsatz, sie in möglichst weitem Umfange
zu berücksichtigen. In allen anderen großen Fragen
der speziellen Eingeborenen-Polirik — ich rechne bierher
die Fragen der Verwendung der eingebvorenen Macht-
haber innerhalb der Vorwaltung, der Heranziehung
der Eingeborenen zu den Kosten der Verwaltung, der
Regelung der Grundbesitzverhältnisse und der Regelung
des gesamten Erziehungswesens — ist der Wechsel
ganz auffallend. Ganz abgeschlossen ist der Prozeß
auch heute noch nicht. Bezüglich der Verwendung der
eingeborenen Machthaber innerhalb der Verwaltung
hat sich England allerdings wohl grundsätzlich und end-
gültig für das indirekte Verwaltungssystem, d. h. für
das Herrschen und Verwalten mit Hilfe der und durch
die Eingeborenen-Häuptlinge, entschieden. Übera
taucht in der Gesetzgebung und in der amtlichen —
richterstatiung die Tendeng auf. die Stellung der Häupt-
linge und sonstigen Machthaber zu festigen und zu
heben. Wo einheimische Organisationen fehlten, ist.
soweit es die Verhältnisse irgend gestatteten, versucht
worden, neue zu schaffen. Ist dies bisher noch nicht
überall gelungen, so dürfte doch seitens der englischen
Kolonialverwaltungen weiter in diesem Sinne ge-
arbeitet werden.
Weit mehr im Übergangsstadium befinden sich die
übrigen drei Fragen. Haben wir in Nordnigerien die
allgemeine Grund= und Einkommenstener, so fehlt es
in Südnigerien und der Goldküste noch vollkommen an
einer allgemeinen direkten Besteuerung. Vorläufig
können noch die Zölle die Auforderungen der Ver-
waltungen befriedigen. Wird das auch noch für Ni-
gerien der Fall sein, sobald e und Nordnigerien
endgülrig vereinigt sind und die Überschüsse Süd-
nigeriens auch den Reichszuschuß für Nordnigerien
überflüssig machen sollen? Ein großer Teil der in
anderen Kolonien aus allgemeinen Mitteln zu be-
streitenden Kosten für die Schaffung und Unterhaltung
der Verkehrsstraßen ist allerdings durch die Über-
tragung dieser Verpflichtung auf die Häuptlinge auf
diese abgewälzt worden. Es dürfte nicht allzu schwierig
sein, dies System ausgubauen und nach und nach auch
teuere Wege= und Straßenbauten durch die Häupt-
linge bestreiten zu lassen. Aber es fragt sich, ob
damit das gesamte Bedürfnis der Verwaltung gedeckt
ist. Eine allgemeine direkte Besteuerung eing#uführen.
wie sie in Frangösisch-Westafrika und in deutschen
Kolonien üblich ist, dürfte von Jahr zu Jahr schwieriger
werden und, sofern die Beunruhigung der Bevölkerung
in Lagos anläßlich des Beschlusses über Einführung
von allgemeinen Wasserleitungsabgaben einen Rück-
schluß hestattet, in den auf höherer Kulturstufe stehenden
Gebieten auf beträchtlichen Widerstand stoßen. Ganz
dasselbe gilt von der jetzt noch vielfach in der Offent-
lichkeit verlangten Auèdehnung der nahezu kommu-
nistischen Regelung der Landfrage, wie sie in Nord-
nigerien erfolgt ist, auf die übrigen Gebiete an der
afrikanischen Westküste. Ich kann mir nicht gut denken,
daß sien in den emtwickelten Gebieten in der Nähe der
Küste, in d.nen sich enropäische Anschauungen über
Einzeleigentum, Bodenwert und Wertzuwachs schon so
lange haben einnisten können, nun ohne weiteres diese
über eine einfache Bevormundung hinausgehende und
einer Enteignung gleichkommende Regelung wird ein-
führen lassen, zumal gleichzeitig damit die Erhebung
einer Grundsteuer verbunden werden soll, gang abge-
sehen davon, daß dies für die kultivierten Gebiete die
Tusübung eines Herrenrechts bedeuten würde, wie es
isher stets seitens Englands in anderen Gebieten auf
das lebhafteste bekämpft wird. In Nordnigerien wurde
die Durchführung dadurch erheblich erleichtert. deß vor
der britischen Herrschaft die Anschauung bestand, der
Sultan von Sokoto habe eine Art Obereigentum über
alles Land innerhalb seines Reiches. Dieses Recht
ging mit seiner Unterwerfung gewisserm aßen auf die
britische Krone über. Eine derartige Vorstellung dürfte
aber in den anderen Gebieten kaum vorherrschen und
ein anderer rechtlicher Grund zu der. Maßregel sich
auch kaum finden lassen. M. E. aber der
durchaus anzuerkennende Endzweck e# Bestimmung,
den Eingeborenen ihr Land zu erhalten und ungesunde
curopäische Unternehmungen fernzuhalten, schon dann
erreichen, wenn jeglicher Vertrag über ein Grundstück
der Genehmigung durch den Gonverneur bedarf. Da-
mit bleibt immer die ichkeit gegeben, in be-
sonderen älen auch den Erwerb von Eigentum durch
Fremde zu gestatten
Mindestens gleichwichtig wie die Landfrage ist
meines Dafürhaltens die Frage, wie in Zukunft das
Erziehungswesen in den Kolonien gestaltet werden
soll. Das bisherige System. nach dem dem Bildungs-
drang der Neger irgendwelche Schranken nicht gesetzt
vurden, sich jeder, soweit es seine Fähigkeiten und
Mittel gestatteten, englische Bildung, ja Hochschul-
bhildung aneignen konnte, dürfte wohl nach überein-
stimmendem lUlrteil aller Kolonialpraktiker keine be-
friedigenden Ergebnisse gezeitigt haben. Die „Ver-
englisierung“ hat den Eingeborenen in der über-
wiegenden Mehrzahl der Fälle nicht zum Segen ge-
reicht. Der Lehrplan der Schule in Nassarawa beweist,
daß man für Nordnigerien diesen Fehler vermeiden
möchte. Daß er sich noch in den Küstenorten wieder
gutmachen läßt, möchte ich bezweifeln. Die Betonung
der Handfertigkeiten im Unterricht und vor allem die
landwirtschaftliche Unterweisung durch Wanderlehrer in
den letzten Jahren kommt zweifellos dem wahren
Kulturbedürfnis der Mehrgahl der Eingeborenen näher,
wenigstens soweit sie noch nicht der Landbestellung
entfremdet sind. In den Städten dürfte eine aus-
schließlich auf die praktische Verwendbarkeit gerichtete
Schulbildung nicht mehr den Wünschen der Einge-
borenen entsprechen. Hier wird sich das Fortschreiten
der „Verenglisierung“ nicht mehr aufhalten lassen.
Ist das richtig, so kommt man auch auf diesem
Gebiet zu einem Dnalismus zwischen den Küsten-
städten und dem Inland, wie wir ihn auch bei der
Schilderung der Rechisverhältnisse angetroffen haben.
Es liegt nahe. nicht in der Vervollständigung der Ver-
schmelgung, sondern in der strikten Durchführung der
Scheidung zwischen Küstenstädten und Inland die
Lösung der sich für die englische Eingeborenen-Politik
ergebenden Schwierigkeiten zu suchen und den ver-
englisierten Küstenorten das Inland mit nationaler
Kultur= und Wirtschaftsentwicklung gegenüberzustellen.
Jene blieben dann das Erbteil früherer Systemlosig--
keit, mit dem sich die heutige englische Kolonialver=
waltung wohl oder übel abzufinden hätte. Dies wäre
das Anwendungsgebiet einer Eingeborenen-Politik, die
unter absolutem Schutz der Eingeborenen und ihrer
berechtigten Gewohnheiten ihren wirklichen wirtschaft-
lichen und kulturellen Bedürfnissen Rechnung trägt,
dabei aber die Autorität der kolonisierenden Macht in
vollem Umfang au wahren weiß..
1
S
-
Dle „rtchaßtch= Cage von Französlsch-Kquatorlal-
ka am Ende des ersten balbsahrs 1912.
ors. . Famechon, Administrateur des colonics.
Französisch- Aquatorial- Afrika ist anscheinend seit
einigen Jahren in eine Periode des regelmäßigen und
schnellen Fortschritts eingetreten. Den Antrieb dazu
hat die fortschreitende militärische und administrative