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bis in die letzten Jahrzehnte hinein, und wo unser
Einfluß nicht hinreicht, noch heute Kindstötung geübt
wird. Meist sind ihr die Mädchen als die zur Ver-
teidigung des Stammes nicht geeigneten Wesen anheim-
gefallen. Nehmen wir an, daß lange Generationen
hindurch, und sei es auch nur an den Ursitzen der Ka-
naken gewesen, diese Sitte des Mädchenmordes ge-
herrscht hat, so müßte sie eine Neigung des Volkes zu
überschüssiger Knabenproduktion bewirken. Zur näheren
Erklärung sei die sehr plausible Theorie eines eng-
lischen Naturforschers') darüber angeführt: „Nehmen
wir als Beispiel drei Familien an. Die eine Mutter
hätte sechs Töchter und keinc Söhne geboren, die zweite
nur sechs Söhne und die dritte drei Söhne und drei
Töchter. Die erste Mutter tötet vielleicht vier Töchter
und läßt zwei am Leben, die zweite behält ihre sechs
Söhne; die dritte tötet zwei Töchter und behält eine,
sowie auch ihre drei Söhne. Wir haben demnach von
diesen drei Familien neun Söhne und drei Töchter,
die den Stamm fortpflangen sollten. Während aber
die Personen männlichen Geschlechtes Familien ange-
hören, in denen die Tendenz, Söhne hervorzubringen,
groß ist, zeigt sich bei denen weiblichen Geschlechts die
entgegengesetzte Neigung. So wird sich mit jeder
Generation der Hang verstärken, bis sich Familien
heraubilden, die gewöhnlich mehr Söhne als Töchter
haben.“ Diese Verschiebung im Verhältnuis der Ge-
schlechter durch Mädchenmord muß kraft der Vererbung
zunächst auch dann noch anhalten, wenn die Sitte er-
loschen ist. Erst allmählich kann sich, hünstige Ent-
wicklungsbedingungen des Volkes vorausgesetzt, der
Ausgleich und die Rückkehr zur normalen Tendenz
vollziehen.
Überblicken wir nunmehr die Pathologie des
Volkes, so bedarf es, um abschließend urteilen zu
önnen, noch der Aufarbeitung des von uns ge-
ammelten Materiales; aber vieles läßt sich auch jeczt
hon klar, erkennen. Neben den bereits erwähnten
Fußgesch würen fallen dem Beobachter auf den ersten
Blick zwei weitere äußere Krankheiten durch ihre un-
geheure Verbreitung unter den Kanaken auf, das sind
die Tinen und die Augenkrankheiten. JFeder dritte
bis vierte Erwachsene leidet an Tinea, wobei auch hier
wieder verfolgt werden kann, daß sie bei genereller
Ausbreitung ausnahmelos zu schwerer Anämie führt.
Fast ebenso groß ist die Verbreitung von Augenleiden
(s. Tab. III). Es handelt sich bei ihnen nicht um ein
einheitliches Krankheitsbild, sondern wir haben sie nur
bis zum Abschluß unserer darüber begonnenen Unter-
suchungen unter dem Namen der eitrigen Konjunktivitis
zusammengefaßt. Entsprechend ihren häufigen Kom-
plikationen ist der gezentsab von Totalerblindungen
unter den Leuten h
Tabelle IIII. Krankheitsverbreitung unter den
171 Kanakenfrauen der Gruppen I bis IV.
Tinen imbricatt. 135 = 29 v. H
Fußverstümmelungen. 116 = 25
Eitrige Konjunktivitis. 8 = 17
Doppelseitige Ketalerblindung 5 — 1,1-
Einseitige Erblindung 111 = 2,3
Außer diesen drei, bei der Betrachtung größerer
Bestandsmassen sich ohne weiteres darbietenden
Krankheiten haben wir unser Augenmerk auch auf
die sonstige Pathologie gerichtet. Die Tuber-
kulose spielt bisher keine große Rolle unter ihnen;
stellenweise ist sie überhaupt noch nicht aufgetreten. Bei
*) Colonel Marshall; zitiert aus Darwin,
die Abstammung des Menschen, Kap. 8.
27 Tuberkulinimpfungen von Schulkindern reagierte nur
eins Fositip und dessen Mutter war bezeichnenderweise
leprös. Der Aussatz kommt sowohl als Flecken= wie
Knotenlepra vor, der Eingeborenenname dafür ist
„Mbamballe". Die Leprösen bzw. Lepraverdächtigen
wurden notiert. Selbst wenn sich bei allen der Ver-
dacht bestätigt, würden wir nur mit einer geringen
Verbreitung zu rechnen haben. Freilich sind die Nach-
forschungen nach Fleckenlepra erschwert durch die so
häufige Tinea i mbricata, deren Hautveränderungen die
leprösen Erscheinungen der Haut verdecken können.
Günstig ist das Volk noch hinsichtlich der Geschlechts-
krankheiten gestellt. Daß es aber ernstlich von
ihnen bedroht ist, geht daraus hervor, daß im Bereich
der beiden Europäerzentren Rabaul und Herbertshöhe
viele Eingeborenenfrauen mit venerischen Leiden (meist
Gonorrhöe oder venerisches Granulom, nur ausnahms-
weise Syphilis) hospitalisiert werden. Ankylosto---
miasis ist stark verbreitet. Die Stuhluntersuchungen
ergaben schon im Kindcsalter über 50 v. H. Behaftete.
Dic diesbezüglichen Feststellungen wurden an zwei
- tvon Schulkindern der Mission gewommen. Da-
bei hat Külz in der Überzeugung, daß gradige
bei hot #ülg in 2 auch die psychische Vistunofähe
keit beeinträchtigt, zweimal folgende Probe gemacht:
Er hat nur mit Hilfe mikroskopischer Untersuchung der
Stuhlproben unter den ihm vorgeführten Knaben ohne
sonstige Orientierung diejenigen bezeichnen können,
welche die mangelhaftesten Fortschritte aufzuweisen
hatten. Frambösie herrscht in allgemeinster Ver-
breitung, führt aber nur sehr selten zu jenen fürchter-
lichen Zerstörungen, wie sie von den Karolinen ge-
schildert wurden. r Malariaindex schwankt zwi-
schen sehr weiten Gienzen und ist offensichtlich direkt
abhängig von der Höhenlage und der Durchlässigkeit
des Bodens. Wir haben auf der Gazellehalbinsel im
wesentlichen zwei vexschiedene Bodenarten: Bimsstein
und in gewissen Teilen der Küstenniederung gehobene,
verwitterte Koralle; jener überaus durchlässig, diese
weniger. Erwähnenswert ist das stellenweise ge-
häufte Vorkommen des Kropfes in allen seinen
Arten, besonders an den Abhängen und den Tälern in
der Nähe des Varzinberges. Gegen seine Operation
verhielten sich die Leute ablehnend, obwohl er von
seinen Trägern als häßlich empfunden zu werden
scheint, worauf ein vor dem Bezirksamt Rabaul ver-
handelter Fall deutet, in dem ein Medizinmann mit
einem schmutzigen Messer eine junge Frau an Rropf
zu Tode operiert hatte.
Was die medizinische Eigenbetätigung der
Kanaken anbetrifft, so bewegt sie sich für innere Krank-
heiten ganz in den Bahnen der Zauberei und des Aber-
glaubens entsprechend der Vorstellung, daß innere Leiden
durch übelwollende Zauberer oder böse Geister ver-
ursacht werden. Einen unerwarteten Gipfelpunkt haben
sie aber in der Chirurgie erklommen, denn sie kennen
und üben Trepanation. ie Lehrmeisterin
dieser Kunst ist die Not gewesen. Eine der am meisten
gebrauchten Waffen der Leute war die Steinschleuder,
und die häufigen schweren Schädelverletzungen durch
Schleudersteine im Kampfe im Verein! mit den durch
Kenntnissen haben sie zu therapeutischen Vor-
gehen gebracht. Die sehr sorgfältige und saubere
Technik dieser Behandlung bel Ichödestrüche findet sich
in allen Einzelheiten genau geschildert in dem Parkin=
sonschen Werke über den Bismarckarchipel'), auf das
hier verwiesen sei. Die häufig wiederholte Beobachtung,
Parkinson=
Dreißig Jahre in
Seite 111 ff.
der Südsee.