Full text: Deutsches Kolonialblatt. XXV. Jahrgang, 1914. (25)

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bis in die letzten Jahrzehnte hinein, und wo unser 
Einfluß nicht hinreicht, noch heute Kindstötung geübt 
wird. Meist sind ihr die Mädchen als die zur Ver- 
teidigung des Stammes nicht geeigneten Wesen anheim- 
gefallen. Nehmen wir an, daß lange Generationen 
hindurch, und sei es auch nur an den Ursitzen der Ka- 
naken gewesen, diese Sitte des Mädchenmordes ge- 
herrscht hat, so müßte sie eine Neigung des Volkes zu 
überschüssiger Knabenproduktion bewirken. Zur näheren 
Erklärung sei die sehr plausible Theorie eines eng- 
lischen Naturforschers') darüber angeführt: „Nehmen 
wir als Beispiel drei Familien an. Die eine Mutter 
hätte sechs Töchter und keinc Söhne geboren, die zweite 
nur sechs Söhne und die dritte drei Söhne und drei 
Töchter. Die erste Mutter tötet vielleicht vier Töchter 
und läßt zwei am Leben, die zweite behält ihre sechs 
Söhne; die dritte tötet zwei Töchter und behält eine, 
sowie auch ihre drei Söhne. Wir haben demnach von 
diesen drei Familien neun Söhne und drei Töchter, 
die den Stamm fortpflangen sollten. Während aber 
die Personen männlichen Geschlechtes Familien ange- 
hören, in denen die Tendenz, Söhne hervorzubringen, 
groß ist, zeigt sich bei denen weiblichen Geschlechts die 
entgegengesetzte Neigung. So wird sich mit jeder 
Generation der Hang verstärken, bis sich Familien 
heraubilden, die gewöhnlich mehr Söhne als Töchter 
haben.“ Diese Verschiebung im Verhältnuis der Ge- 
schlechter durch Mädchenmord muß kraft der Vererbung 
zunächst auch dann noch anhalten, wenn die Sitte er- 
loschen ist. Erst allmählich kann sich, hünstige Ent- 
wicklungsbedingungen des Volkes vorausgesetzt, der 
Ausgleich und die Rückkehr zur normalen Tendenz 
vollziehen. 
Überblicken wir nunmehr die Pathologie des 
Volkes, so bedarf es, um abschließend urteilen zu 
önnen, noch der Aufarbeitung des von uns ge- 
ammelten Materiales; aber vieles läßt sich auch jeczt 
hon klar, erkennen. Neben den bereits erwähnten 
Fußgesch würen fallen dem Beobachter auf den ersten 
Blick zwei weitere äußere Krankheiten durch ihre un- 
geheure Verbreitung unter den Kanaken auf, das sind 
die Tinen und die Augenkrankheiten. JFeder dritte 
bis vierte Erwachsene leidet an Tinea, wobei auch hier 
wieder verfolgt werden kann, daß sie bei genereller 
Ausbreitung ausnahmelos zu schwerer Anämie führt. 
Fast ebenso groß ist die Verbreitung von Augenleiden 
(s. Tab. III). Es handelt sich bei ihnen nicht um ein 
einheitliches Krankheitsbild, sondern wir haben sie nur 
bis zum Abschluß unserer darüber begonnenen Unter- 
suchungen unter dem Namen der eitrigen Konjunktivitis 
zusammengefaßt. Entsprechend ihren häufigen Kom- 
plikationen ist der gezentsab von Totalerblindungen 
unter den Leuten h 
  
  
  
Tabelle IIII. Krankheitsverbreitung unter den 
171 Kanakenfrauen der Gruppen I bis IV. 
Tinen imbricatt. 135 = 29 v. H 
Fußverstümmelungen. 116 = 25 
Eitrige Konjunktivitis. 8 = 17 
Doppelseitige Ketalerblindung 5 — 1,1- 
Einseitige Erblindung 111 = 2,3 
Außer diesen drei, bei der Betrachtung größerer 
Bestandsmassen sich ohne weiteres darbietenden 
Krankheiten haben wir unser Augenmerk auch auf 
die sonstige Pathologie gerichtet. Die Tuber- 
kulose spielt bisher keine große Rolle unter ihnen; 
stellenweise ist sie überhaupt noch nicht aufgetreten. Bei 
*) Colonel Marshall; zitiert aus Darwin, 
die Abstammung des Menschen, Kap. 8. 
  
27 Tuberkulinimpfungen von Schulkindern reagierte nur 
eins Fositip und dessen Mutter war bezeichnenderweise 
leprös. Der Aussatz kommt sowohl als Flecken= wie 
Knotenlepra vor, der Eingeborenenname dafür ist 
„Mbamballe". Die Leprösen bzw. Lepraverdächtigen 
wurden notiert. Selbst wenn sich bei allen der Ver- 
dacht bestätigt, würden wir nur mit einer geringen 
Verbreitung zu rechnen haben. Freilich sind die Nach- 
forschungen nach Fleckenlepra erschwert durch die so 
häufige Tinea i mbricata, deren Hautveränderungen die 
leprösen Erscheinungen der Haut verdecken können. 
Günstig ist das Volk noch hinsichtlich der Geschlechts- 
krankheiten gestellt. Daß es aber ernstlich von 
ihnen bedroht ist, geht daraus hervor, daß im Bereich 
der beiden Europäerzentren Rabaul und Herbertshöhe 
viele Eingeborenenfrauen mit venerischen Leiden (meist 
Gonorrhöe oder venerisches Granulom, nur ausnahms- 
weise Syphilis) hospitalisiert werden. Ankylosto--- 
miasis ist stark verbreitet. Die Stuhluntersuchungen 
ergaben schon im Kindcsalter über 50 v. H. Behaftete. 
Dic diesbezüglichen Feststellungen wurden an zwei 
- tvon Schulkindern der Mission gewommen. Da- 
bei hat Külz in der Überzeugung, daß gradige 
bei hot #ülg in 2 auch die psychische Vistunofähe 
keit beeinträchtigt, zweimal folgende Probe gemacht: 
Er hat nur mit Hilfe mikroskopischer Untersuchung der 
Stuhlproben unter den ihm vorgeführten Knaben ohne 
sonstige Orientierung diejenigen bezeichnen können, 
welche die mangelhaftesten Fortschritte aufzuweisen 
hatten. Frambösie herrscht in allgemeinster Ver- 
breitung, führt aber nur sehr selten zu jenen fürchter- 
lichen Zerstörungen, wie sie von den Karolinen ge- 
schildert wurden. r Malariaindex schwankt zwi- 
schen sehr weiten Gienzen und ist offensichtlich direkt 
abhängig von der Höhenlage und der Durchlässigkeit 
des Bodens. Wir haben auf der Gazellehalbinsel im 
wesentlichen zwei vexschiedene Bodenarten: Bimsstein 
und in gewissen Teilen der Küstenniederung gehobene, 
verwitterte Koralle; jener überaus durchlässig, diese 
weniger. Erwähnenswert ist das stellenweise ge- 
häufte Vorkommen des Kropfes in allen seinen 
Arten, besonders an den Abhängen und den Tälern in 
der Nähe des Varzinberges. Gegen seine Operation 
verhielten sich die Leute ablehnend, obwohl er von 
seinen Trägern als häßlich empfunden zu werden 
scheint, worauf ein vor dem Bezirksamt Rabaul ver- 
handelter Fall deutet, in dem ein Medizinmann mit 
einem schmutzigen Messer eine junge Frau an Rropf 
zu Tode operiert hatte. 
Was die medizinische Eigenbetätigung der 
Kanaken anbetrifft, so bewegt sie sich für innere Krank- 
heiten ganz in den Bahnen der Zauberei und des Aber- 
glaubens entsprechend der Vorstellung, daß innere Leiden 
durch übelwollende Zauberer oder böse Geister ver- 
ursacht werden. Einen unerwarteten Gipfelpunkt haben 
sie aber in der Chirurgie erklommen, denn sie kennen 
und üben Trepanation. ie Lehrmeisterin 
dieser Kunst ist die Not gewesen. Eine der am meisten 
gebrauchten Waffen der Leute war die Steinschleuder, 
und die häufigen schweren Schädelverletzungen durch 
Schleudersteine im Kampfe im Verein! mit den durch 
  
  
  
Kenntnissen haben sie zu therapeutischen Vor- 
gehen gebracht. Die sehr sorgfältige und saubere 
Technik dieser Behandlung bel Ichödestrüche findet sich 
in allen Einzelheiten genau geschildert in dem Parkin= 
sonschen Werke über den Bismarckarchipel'), auf das 
hier verwiesen sei. Die häufig wiederholte Beobachtung, 
Parkinson= 
Dreißig Jahre in 
Seite 111 ff. 
der Südsee.
	        
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