92 1. Buch. III. Abschn. Bildung der Rechtsordnung (Rechtsnormen).
Die Behauptung aber, daß der Richter die Rechtsbe-
ständigkeit des Gesetzes nicht zu prüfen habe, würde nur
dann zutreffen, wenn wir in monarchischen Staaten dem
Monarchen oder in republikanischen Staaten dem Präsidenten
die volle Rechtsmacht gäben, Gesetze oder Verordnungen mit
gesetzgeberischer Gewalt unbedingt zu erlassen, sodaß es bloß
seine Pflicht wäre, die Zustimmung des Parlaments einzuholen.
Das ist aber nicht der Gedanke unserer parlamentarischen
Verfassung, sondern ihr Grundgedanke ist der, daß die Zu-
stimmung des Parlaments Bedingung ist für die Gültigkeit
der Gesetze, und daraus ergibt sich (abgesehen von verfassungs-
mäßigen Ausnahmen) das richterliche Prüfungsrecht von selber.
II. Frühere Zeit wollte dem Juristen das Recht geben, bei
Anwendung der Rechtsnorm auch ihre Vernünftigkeit und ihre
Übereinstimmung mit dem göttlichen Rechte in Betracht zu
ziehen, in der Art, daß er im Fall eines Widerspruches mit
diesen Mächten vom Gesetz absehen dürfe und solle. Dies
beruhte auf dem bereits oben gekennzeichneten Gedanken von
der Beschränkung der Gesetzgebung, auf dem Gedanken, dab
das Recht der einzelnen Staaten nur Statutenrecht sei, welches
unter dem göttlichen Recht der Kirche und unter dem Kaiser-
recht stünde (8. 85); weshalb der Richter in dieser Be-
ziehung das Statutenrecht prüfen und in seinem Verhältnis zu
solcher höheren Ordnung festsetzen dürfe Die Zeiten des
Naturrechts gaben dem Gedanken die Wendung, daß das
positive Recht, das mit dem Naturrecht in Widerspruch
stünde, nichtig sei; denn die Aufgabe des positiven Rechts
sei, dem Naturrecht nahe zu kommen, sodaß, wenn wir das
Naturrecht — auch nur in einem bestimmten Punkte —
hätten, das positive Recht sich insofern von selber ver-
fiichtigte.!) Diese letztere Ansicht wird mitunter in fremden
Staaten noch aufrrecht erhalten, so z. B. bei amerikanischen
Richtern. Für uns gilt sie nicht mehr: wir binden den Richter
ohne weiteres an das positive Kecht.
III. Eine ganz andere Frage ist, welche Bedeutung die Ver-
1) Schon frühzeitig hat Thomas von Aquin 1, 11 qu. 97 A. 1
diesen Gedanken ausgesprochen: Naturalis lex est participatio quaedam
legis aeternae... et ideo immobilis perseverat, quod habet ex immobilitate
et perfectione divinae rationis instilwentis naluram.