Full text: Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts. Erster Band. (1)

i06 I.Buch. III. Absehn. Bildung der Rechtsordnung (Rechtsnormen). 
sich nicht auf Familienverhältnisse und Güter in diesem Sinne, 
sondern auf das ganze Rechtsleben, soweit nicht durch Ver- 
kehrsgeschäfte die Rechtsverhältnisse dritter Personen mit in 
Betracht kommen und darum die gemeine Rechtsordnung aus- 
schlaggebend ist (A. 57). 
Dies ist hier nur anzudeuten; die weitere Ausführung’) 
gehört dem die Sonderrechtsquellen berücksichtigenden Privat- 
Fürstenrecht an, das ich anderwärts zu behandeln gedenke. 
2. Gewohuheitsrecht. 
a) Entstehung. 
8 32. 
I. Das Gewohnheitsrecht entwickelt sich immanent, d.h. 
dadurch, daß die sozialen Rechtsanschauungen sich von selbst 
im Leben verwirklichen. Hierzu gehört, daß gewisse Tätig- 
keiten der Ausfluß sozialer Rechtsanschauungen sind. Völlig 
unrichtig ist die Meinung, als ob das Gewohnheitsrecht einfach 
darin begründet sei, dab etwas oft geschieht, sodaß daraus 
zu schließen sei, daß es immer geschehen müsse Das würde 
völlig Sitte und Gewohnheitsrecht durcheinander werfen.”) 
Es kann Sitte sein, daß die Leute Sonntags in die Kirche 
gehen, daß man sich in Gesellschaft des Fracks bedient oder 
in bestimmter Kleidung auf der Straße einhergeht; es kann 
Sitte sein, daß man auf das Zutrinken nachtrinkt, daß man 
einen Gruß erwidert: aber alles dies kann noch kein Ge- 
wohnheitsrecht schaffen, sodaß jedermann verpflichtet wäre, 
 %) Hierher gehört auch die Frage des landesherrlichen Ehescheidungs- 
rechts und seiner Fortdauer. Vgl. auch noch $ 2 E.6. zum 2.V.G., $ 83 
Grundb.O. 
®) Das geistige Element in der Gewohnheit betont zu haben, ist 
Puchtas unsterbliches Verdienst; daß er dabei das reale Element ver- 
nachlässigte, beruht auf dem Reiz des Gegensatzes. \Venn andere neuer- 
dings das geistige Moment wieder entfernen wollten, so ist dies ein 
individualisierende Verkennung der sozialen Entwicklung, die stets eine 
tiefe Geistigkeit enthält. Sehr förderlich sind die dogmengeschichtlichen 
Untersuchungen von Brie, Lehre vom Gewohnheitsrecht I, obgleich hier 
manches fehlt, z. B. die Berücksichtigung der italienischen Stadtrechte, 
wo die consuetudo neben dem Gesctzesrecht anerkannt ıst, z. B. in Ra- 
venna (15. Jahrh.): consueludo hartenus approbata (vgl. mein italienisches 
Strafrecht S. 15); sehr Lehrreiches bietet das bedeutende Werk von 
Lambert. Fonction du droit eivil compare (1903) p. 107 ff.
	        
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