Full text: Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts. Erster Band. (1)

126 I. Buch. 111. Absehn. Bildung der Rechtsordnung (Rechtsnormen). 
hinter den Worten den möglichen Gedanken, sondern auch 
unter den möglichen Gedanken den richtigen zu suchen. Der 
richtige Gedanke aber kann in verschiedener Weise aus- 
gezeichnet werden. Früher, als ich die Sache nur nach der 
obigen ersten Seite betrachtete, glaubte ich, das Zielbestreben 
des Gesetzes sei das Entscheidende, welches mehr oder minder 
in den Bestrebungen zu erblicken sei, die dem Gesetze zu 
Pathen gestanden haben. Ich glaube nicht mehr, daß dies die 
Hauptsache sei, obgleich diesem Punkte eine gewisse Bedeutung 
nicht abzusprechen ist. 
Die Hauptsache ist vielmehr die: von den möglichen Ge- 
danken des Gesetzes ist derjenige zu wählen, bei weichem das 
Gesetz den vernünftigsten, heilsamsten Sinn hat und die wohl- 
tuendste Wirkung äußern wird. Einer Rechtfertigung dieses 
Satzes bedarf es kaum; denn das versteht sich von selber, 
daß das Rechtsleben am meisten gedeiht, wenn die Gesetze 
den vernünftigsten, bedeutungsvollsten Sinn haben, und daß 
die Jurisprudenz eine Hauptaufgabe darin zu finden hat, dem 
Rechtsleben durch die Vernunft des Rechts zu dienen. Dies 
ist früher nur verdunkelt worden durch den falschen Wahn 
dier subjektiven Auslegung; nachdem der Wahn zerstoben, tritt 
der richtige Gedanke klar hervor. Sind allerdings nach dieser 
Betrachtungsweise mehrere Deutungen möglich, kann also das 
Heil in der einen wie in der anderen gesucht werden, dann 
wird man auf den Zusammenhang der Gesetzesbestimmungen 
eingehen müssen und diejenige Auslegung vorziehen, durch 
die das Gesetz den konsequentesten, organisch richtigsten 
Aufbau findet; insbesondere wird das Ineinandergreifen der 
verschiedenen Gesetze des Landes in Betracht kommen, denn 
es ist ein Haupterfordernis einer gesunden Gesetzgebung, 
daß die Gesetze zu einander passen und nicht in ein un- 
zusammenhängendes Gemisch von Bestimmungen auslaufen. 
Sollte auch hiermit ein sicheres Ergebnis nicht zu er- 
zielen sein, dann darf man auf das Zweckbestreben des 
Gesetzes eingehen und berücksichtigen, welche Absichten, 
Wünsche und Befürchtungen die Welt erregten, als man das 
Gesetz gab und damit einem Bedürfnis der sozialen Welt 
entgegenzukommen suchte. Auch dies ist ein richtiger Ge- 
danke; es ist richtig, daß, wenn die übrigen Auslegungen
	        
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