Full text: Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts. Erster Band. (1)

6. Rechtsordnung und Rechtsleben. 8 8. 9 
6. Rechtsordnung und Rechtsleben. 
88. 
I. Die Rechtsordnung ist meistens nicht eine Regelung des 
einzelnen Falls, sondern eine Regelung durch Grundsätze: die 
Rechtsordnung gibt Rechtsgrundsätze, die im einzelnen Falle 
zur Anwendung kommen, wenn die Voraussetzungen gegeben 
sind. Man kann insofern von einer Kausalität der Rechts- 
ordnung sprechen: die von der Rechtsordnung aufgestellten 
Grundsätze bewirken ebenso in der Welt des Rechts die 
Gestaltungen im einzelnen, wie die Naturgesetze in der Welt 
der Erscheinungen die Erscheinungsformen bilden. Doch darf 
man die Idee des Kausalitätsgesetzes nicht übertreiben; denn 
es ist unrichtig, anzunehmen, daß etwa die Rechtsgrundsätze 
eine Welt für sich darstellten, die den einzelnen Rechts- 
erscheinungen außerweltlich gegenüberstünden; vielmehr gilt 
das Prinzip der Immanenz: die Rechtsgrundsätze entwickeln sich 
in den einzelnen Lebensereignissen: sie sind Gedankendinge, 
die wir kraft Abstraktion aus den Erscheinungen her vorziehen, 
indem wir damit die Gesetze angeben, von welchen die Welt 
des Rechts regiert wird. Es ist ebenso, wie die Naturgesetze 
nicht etwa außerhalb der Naturwesen bestehen, sondern in 
ihnen leben und wirken. Von dem Kausalitätsgesetz kann 
man daher nur dann sprechen, wenn man in menschlicher 
Weise das durch unser Denken gewonnene Abstraktum den 
konkreten Erscheinungen gegenüber stellt; dann sagt man: 
dieses Abstraktum in Verbindung mit dem an es herantretenden 
Konkretum bewirkt die oder jene Rechtsfolgen. 
Diese Immanenz des Rechtes ist ursprünglich auch formell: 
das Recht entwickelt sich nicht etwa so, daß die Menschen 
zusammenträten, gewisse Grundsätze aufstellten und diese im 
Leben verwirklichten: sondern die Menschen halten das oder 
jenes für angemessen und verwirklichen es im Leben. Sie 
verwirklichen es in gemeinsamer Übereinstimmung durch die 
sozialen Zwangsmittel; und erst der dritte Beobachter oder der 
geschichtliche Forscher zieht aus den einzelnen Erscheinungen 
den wesentlichen Grundsatz hervor und erklärt, daß diese oder 
jene Grundgedanken im Leben gegolten haben: sie haben sich 
unbewußt entwickelt, sobald das Recht sich aus der Sitte 
heraus gestaltet hat.
	        
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