99 TI.Buch. IL. Abschn. Stellung d. Rechtsordn. unter d. Kulturmächten.
Il. Es ist schon mehrfach hervorgehoben worden,!) daß die
Sitte ursprünglich das ganze Leben umfaßt und den Menschen
völlig und unbedingt bindet, sodaß, wer sich nicht der Sitte
fügt, überhaupt nicht in der Gesellschaft geduldet wird; daß
sich später bei der Entwicklung der Persönlichkeit eine größere
Freiheit bildet und man zwischen denjenigen Gebieten der
Sitte unterscheidet, die der Person frei gestellt sind ohne
Gefahr sozialer Vernichtung oder Ausschließung, und denjenigen
Gebieten, welche keiner verletzen darf, der in der sozialen Welt
noch gelten will. Diese immanente Entwicklung des Rechts nennt
man Gewohnheitsrecht; es hat, solange es überhaupt eine
von der Sittenordnung verschiedene Rechtsordnung gab, von
jeher gegolten, und diese Rechtsbildung gilt noch heutzutage,
sie läßt sich nicht durch Gesetzessätze verdrängen: sie beruht
ebenso wie die Sitte darauf, daß der Mensch ein soziales
Wesen ist, dab das, was für angemessen und recht gilt, von
den verschiedenen, in gleicher Sphäre lebenden Persönlich-
keiten in gleicher Weise empfunden wird und sich daher in
gleicher Weise zur Tat drängt. Insofern hat es etwas für
sich, wenn die Römer in bekannten, später noch unendlich
oft erwähnten Sätzen das Gewohnheitsrecht mit dem Plebiszit
vergleichen, indem sie sagen, daß das Volk, welches im Plebiszit
ausdrücklich seinen Willen erklärt, hier mittelbar spräche.
III. Erst im weiteren geschichtlichen Fortgang entsteht die
Rechtsentwicklung durch Aufstellung bewußter Grundsätze;
das ist die Rechtsbildung durch Gesetz: man erklärt, daß
die oder jene mehr oder minder allgemein gefaßten Grundsätze
in Zukunft gelten sollen. Das ist von seiten des Häuptlings-
rechts ursprünglich so gedacht: es ist ein Gebot, ein Imperativ,
und wer dagegen verstößt, der verstößt gegen die Person des
Häuptlings. Später wird es aber dahin gewendet, daß hier die
oben angeführte Ursächlichkeit eintritt und aus den Verord-
nungen sich die entsprechenden Rechtsfolgen bilden, sobald die
erforderlichen tatsächlichen Voraussetzungen individuell gegeben
sind. Die Gesetze sind nicht mehr Befehle, sie sind die
Schöpfer von Rechtsgrundsätzen, denen sich der einzelne in
dem Maß unterwerfen muß, wie er sich überhaupt der Rechts-
1) Meine Darstellung in Helmolts Weltgeschichte I S. 46, Einführung
in die Rechtswissenschaft S.2. Vgl. auch oben 8. 8.