Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

$ 15 II. Der Weg der Reichsgesetzgebung. 121 
  
gemacht werden soll, angedeutet zu sein. Der Kaiser aber ist verfassungs- 
mässig verpflichtet, die Vorlage an den Reichstag nach Massgabe der Be- 
schlüsse des Bundesrates zu bringen; d.h. er darf weder die Einbringung ganz 
unterlassen oder unnötig verzögern; noch darf er die Vorlage anders ein- 
bringen, als der Bundesrat sie beschlossen hat; noch kann der Kaiser Gesetz- 
entwürfe, welche der Bundesrat verworfen hat oder welche in demselben gar 
nicht zur Beschlussfassung gelangt sind, dem Reichstage vorlegen lassen !). 
Der Reichstag muss über eine Gesetzesvorlage des Bundesrates einen mate- 
riellen Beschluss fassen, d. h. sie annehmen oder ablehnen; er darf nicht über 
dieselbe zur Tagesordnung übergehen ?). 
Da es nach Art. 16 der RV. die Pflicht des Kaisers ist, die vom Bundesrat be- 
schlossenen Gesetzentwürfe dem Reichstage vorzulegen, so kann der Reichskanzler 
nicht unter Berufung auf seine „Verantwortlichkeit‘“ sich der Erfüllung dieser Pflicht 
widersetzen, wenn er mit einem vom Bundesrat gefassten Beschlusse sachlich nicht 
einverstanden ist. Denn die Verantwortlichkeit erstreckt sich nur darauf, dass der 
Beschluss vom Bundesrat verfassungs- und geschäftsordnungsmässig gefasst worden 
ist und dass die Vorlage so, wie sie der Bundesrat beschlossen hat, an den Reichstag 
gelangt, aber nicht auf den Inhait derselben. Eine Verantwortlichkeit des Reichs- 
kanzlers für einen von seinem Willen unabhängigen Vorgang hat keinen Sinn; durch 
den Beschluss des Bundesrats wird der Reichskauzler vielmehr von der Verantwort- 
lichkeit für den Inhalt des Gesetzentwurfs entlastet. Praktisch würde jene Aus- 
dehnung der angeblichen 'Verantwortlichkeit (gegen wen?) lediglich die Einführung 
eines Veto des Reichskanzlers gegen alle ihın nicht behagenden Beschlüsse des Bun- 
desrats bedeuten, von dem die RV. nichts weiss. Ein hierher zu beziehender Vor- 
gang ereignete sich 1880. Der Bundesrat beschloss am 3. April 1880 bei der Bera- 
tung des Gesetzentwurfs betreffend die Reichsstempelabgaben, dass Quittungen 
über Postanweisungen und Postvorschusssendungen steuerfrei bleiben sollten. In- 
folgedessen forderte der Reichskanzler die Entlassung, weil er einen gegen Preussen, 
.„ Bayern und Sachsen gefassten Majoritätsbeschluss weder vertreten, noch in seiner 
Stellung als Reichskanzler von dem Beneficium Gebrauch machen könne, welches 
Art. 9 der RV. der Minorität gewährt. Das Entlassungsgesuch wurde jedoch nicht 
genehinigt und der Konflikt dadurch vermieden, dass der Bundesrat seinen Beschluss 
nach den Wünschen des Reichskanzlers abänderte. Vgl. die treffliche Erörterung der 
Frage vonHänel, Studien II 8. 46 ff., mit welchem auchH ens e lin Hirths Annalen 
1882 8. 14 übereinstinnit, sowie die Verhandlung des Reichstages v. 24. Febr. 1881. 
Wenn der Reichstag einen Gesetzesvorschlag aufgestellt oder einen vom 
Bundesrat ihm vorgelegten amendiert hat, so wird derselbe durch den Präsi- 
denten des Reichstages dem Reichskanzler übersendet ®) und von diesem dem 
Bundesrate in dessen nächster Sitzung vorgelegt *). Die Verhandlungen zwi- 
schen beiden Körperschaften sind solange fortzusetzen, bis eine Einigung 
über den Wortlaut des Gesetzes erzielt ist. 
1) Seydel im Jahrb. von Holtzendorff und Brentano III S. 285: „Die Ge- 
setzes- und anderweitigen Vorlagen an den Reichstag sind Vorlagen der Verbündeten, 
nicht des Kaisers; der letztere vermittelt nur die Tebersendung. Er kann Vorlagen an 
den Reichstag auf eigene Hand nicht machen.‘ TVebereinstimniend Meyer $ 163. 
SchulzelIS.117. v. RönnelS. 213. Der Form nach erscheinen allerdings 
die Vorlagen an den Reichstag gemäss Art. 16 RV. als kaiserliche Vorlagen. Fricker 
S. 24 Note 1. HänelS. 43 fg. Insbesondere ist der Kaiser befugt zu prüfen, ob der 
Bundesrat die Vorlage in verfassungs- und geschäftsordnungsmässiger Weise beschlossen 
hat, und die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers gegenüber dem Reichstage erstreckt. 
sich auf die formelle Verfassungsmässigkeit der Beschlüsse des Bundesrats. 
2) Dies ist anerkannt in der Revid. Geschäfts-Ordnung des Reichstages $ 53 Abs. 4. 
3) Revid. Geschäftsordn. des Reichstages $ 69. Die Uebersendung ist keine bloss 
tatsächliche Benachrichtigung, sondern eine Rechtshandlung; denn der Reichs- 
tagsbeschluss ist eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung, welche dem 
durch seinen Vorsitzenden vertretenen Bundesrat gegenüber abgegeben werden muss. 
4) Revid. Geschäftsordn. des Bundesrates $8. Die Ermächtigung seitens des Kaisers 
ist hierzu nicht erforderlich.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.