Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

10 Erster Abschnitt: Die Entstehungsgeschichte des Deutschen ‚Reiches. $1 
  
  
vorschriften der bereits bestehenden Staatsordnung, unter deren Herrschaft sich diese 
Vorgänge vollziehen. Mit Rücksicht auf die letzteren können die Gründungsvorgänge 
des neuen Staates als Rechtsbruch oder als legitime, ihre Kraft aus dem Recht her- 
leitende Handlungen erscheinen. Keine Korporation des privaten oder öffentlichen 
Rechts kann ohne Statut (Verfassung) enstehen; das erste Statut kann sich aber 
die Korporation nicht selbst geben, da sie zur Zeit seiner Festsetzung noch nicht 
existiert, sondern es wird ihr von den Gründern gegeben. Die rechtsverbindliche 
Kraft dieses Statuts kann nicht aus ihm selbst abgeleitet werden. Die Frage, ob eine 
Korporation rechtsgültig errichtet ist, beantwortet sich nach den Rechtssätzen, 
welche zur Zeit ihrer Gründung, also bevor sie existent wird, gelten. Hiernach ergibt 
sich, dass zwar nicht derRechtsgrund der Bundesverfassung, wohl aber die Recht- 
mässigkeit der staatlichen Willensakte und Jandlungen, durch welche die 
Schöpfung des Bundesstaates erfolgte, nach dem zur Zeit der Errichtung des Bundes 
geltenden Staatsrecht der Einzelstaaten und daher für jeden derselben besonders 
zu beurteilen ist. Durch die Konstatierung der Tatsache, dass die verfassungsmässig 
vorgeschriebenen Formen in sämtlichen dem Bunde heigetretenen Staaten beobachtet 
worden sind, wird der Beweis für die Legitimität der Bundesverfassung und der 
Staatsgew alt des Bundes erbracht, und hierin besteht die staatsrechtliche Bedeutung 
der einzelstaatlichen Puhlikationsgesetze für den Norddeutschen Bund und das 
Deutsche Reich: sie vermitteln den rechtlichen Zusammenhang zwischen dem letzteren 
und derjenigen staatlichen Ordnung, die vor der Gründung desselben bestanden hat. 
Zustimmend Fleiner, Die Gründung des schweizerischen Bundesstaates im Jahre 
1848. Basel 1898. S.27. Seidler, Das juristische Kriterium des Staates (Tübingen 
1905) S. 69 meint, dass die die Verfassung setzenden konstitutiven Organe weder den 
Staat noch die Verfassung (desselben durch ihren Willen setzen, sondern nur die 
Vollendung des staatlichen Entwieklungsprozesses verkünden; die Geltung der Ver- 
fassung beruhe nicht auf der Gesetzgebungsbefugnis, sondern auf dem Dasein des 
Staates, welcher ist, sobald die „sozialpsychischen Voraussetzungen 
seines Seins erfüllt sind‘. Wann sind diese erfüllt und wer ist von Rechts wegen be- 
rufen, dies mit rechtsverbindlicher Kraft zu verkünden ? Waren sie für den Nordd. 
Bund am 30. Juni 1867 noch nicht gegeben, aber am 1. Juli 1867 vorhanden ? Mit 
solchen metajuristischen, sozialphilosophischen, historisch nicht nachweisbaren 
Annahmen ist juristisch nichts anzufangen Es handelt sich nicht um die Voraus- 
setzungen des Staates an sich, sondern um die Entstehung eines konkreten 
Staates, un bestimmte historische und juristische Vorgänge und deren rechtliche 
Bedeutung. Im Anschluss an die Ausführungen von Jellinek ist mehrfach die Be- 
hauptung aufgestellt worden, namentlich in ausführlicher Begründung von M. 
Wenzel, Zur Lehre der vertragsmässigen Elemente der RV. Tübingen 1909, 
S. 3 ff., dass die Akte der Einzelstaaten keine konstitutive Bedeutung für die Grün- 
dung des Nordd. Bundes resp. des Deutschen Reichs haben konnten: Nordd. Bund 
und Deutsches Reich seien dadurch entstanden, dass König Wilhelm I. sich als Prä- 
sident des Bundesstaates „aufwarf‘ und die Staatsgewalt ‚usurpierte‘‘. Der Herrscher- 
akt Wilhelms I. sowie das Gehorchen der Einzelstaaten können rechtlich nicht abge- 
leitet werden, sondern seien Vorgänge von rein tatsächlichem Charakter. 
Wenn aber diese Vorgänge keine Rechtsakte waren, so konnten sie auch keine Rechts- 
wirkungen haben; denn die Rechtswirkungen tatsächlicher Vorgänge werden diesen 
nur durch das Recht beigelegt und können aus ihnen selbst nicht abgeleitet werden. 
Wenn die „Usurpation‘‘ König Wilhelms und die Unterwerfung der Einzelstaaten 
rein tatsächliche Vorgänge gewesen wären, so müssten sie durch ein entgegenge- 
setztes tatsächliches Verhalten der Beteiligten aufgehoben werden können. Vgl. 
meine Erörterungen im Archiv f. öff. R. Bd. 26 S. 365 ff. Klar und richtig ist die 
treffliche Darstellung der Gründungsvorgänge von Anschütza.a. O. S. 502 fg. 
III. Die süddeutschen Staaten d. h. Bayern, Württemberg, Baden und 
Hessen südlich des Mains waren infolge des Prager Friedens Art. IV von 
dem Bundesstaate ausgeschlossen; ihnen sollte es freistehen ‚in einen Verein 
zusammen zu treten, dessen nationale Verbindung mit dem Norddeutschen 
Bunde der näheren Verständigung zwischen beiden vorbehalten bleibt, und 
der eine internationale unabhängige Existenz haben wird“. Zur Bildung des 
Südbundes kam es aber nicht ; dagegen wurde durch völkerrechtliche Verträge 
eine politisch sehr wirksame Verbindung zwischen dem Nordd. Bunde und 
den süddeutschen Staaten hergestellt und zwar in folgenden Beziehungen: 
1. Gleichzeitig mit den Friedensverträgen wurden zwischen Preussen und
	        
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