8 10. Das Subjekt der Reichsgewalt. 101
Eine politische (parlamentarische) Verantwortlichkeit ist in jedem
Falle vorhanden und keine Regierung wäre berechtigt, eine Recht-
fertigung ihres Verhaltens und eine Darlegung der Gründe desselben
ihrer Landesvertretung gegenüber mit dem Hinweise abzulehnen, daß
die in Rede stehende Angelegenheit Reichssache sei; denn die In-
struktionserteilung an die Vertreter des Staates im Bundesrat ist in
der Tat niemals Reichssache, sondern immer eine Regierungsangelegen-
heit des Einzelstaates'., Ganz unberührt von diesem Grundsatz bleibt
natürlich die materielle Würdigung der Gründe, welche die Regierung
eines Einzelstaates veranlassen können, im Interesse des Wohles der
Gesamtheit ein Opfer zu bringen. Es ist eine aus der Reichsangehöfrig-
keit des Staates sich von selbst ergebende politische Pflicht, nicht ledig-
lich das partikularistische Interesse, sondern gleichzeitig das allgemeine
Interesse des Reiches zu fördern:
Wenn man den Anteil der Einzelstaaten an der Reichsgewalt, wie
er soeben entwickelt worden ist, in Betracht zieht, so ergibt sich zu-
gleich, in welchem Sinne man den Einzelstaaten den Charakter der
Souveränität beilegen kann.
Der Einzelstaat ist dem Reiche gegenüber, wie wir bereits dargetan
haben, nicht souverän, und da es keine Beschränkung und folglich
auch keine Teilung der Souveränität geben kann, auch nicht »inner-
halb seiner Sphäre« souverän. Aber der Einzelstaat ist an dieser über
ihm stehenden Gewalt mitbeteiligt; die deutschen Staaten sind: nicht
einem von ihnen oder einem fremden Machthaber unterworfen, son-
dern sie sind als einzelne der von ihnen selbst gebildeten Gesamtheit
unterworfen. »Innerhalb des Bundesrats findet die Souveränität einer
jeden Regierung ihren unbestrittenen Ausdruck,« sagte Fürst Bis-
marck im verfassungberatenden Reichstage?. Die deutschen
Staatensindals Gesamtheit souverän.
Auch in internationaler Beziehung ist nur das Reich souverän,
der Einzelstaat nicht. Als Mitglieder des Reichs nehmen aber die
Einzelstaaten Anteil an der völkerrechtlichen Stellung der Gesamtheit.
Mit Rücksicht darauf und auf die aus der Zeit des Deutschen Bundes
stammende Uebung und Tradition erklärt es sich, daß die Landes-
herren der Einzelstaaten ihre persönliche Souveränität und alle
damit verbundenen staatlichen und völkerrechtlichen Ehrenrechte un-
1) Auch der Hinweis auf die parlamentarische Kontrolle durch den Reichstag ist
gänzlich unpassend. Der Reichstag ist niemals in der Lage, die Regierungen der
Einzelstaaten zur Darlegung der Gründe ihres Verhaltens zu veranlassen. Die Ver-
treter des einzelnen Staates können sich immer darauf berufen, daß sie lediglich ihrer
Instruktion gemäß abzustimmen haben und daß sie die Motive der ihnen erteilten
Instruktionen nicht zu prüfen befugt sind, ja dieselben gar nicht zu kennen brauchen.
Eine Diskussion über die Instruktion der Vertreter im Bundesrat ist eine häusliche
Angelegenheit der Einzelstaaten und kann lediglich zwischen den verantwortlichen
Leitern der Regierung und der Volksvertretung des Einzelstaates statthaben.
2) Stenogr. Berichte S. 388.