Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

8 11. Die Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich. 105 
aufzurichten. Die Einzelstaaten empfinden auf allen Gebieten des 
staatlichen Lebens die höhere Macht, der sie unterworfen sind, da sie 
sich nur innerhalb des Raumes bewegen können, den die Reichsgesetz- 
gebung ihnen frei läßt. Aber ein solcher Raum ist vorhanden; er ist 
durch das Reich begrenzt, aber nicht absorbiert. 
Aus diesem Grunde erweist es sich als unrichtig, wenn man sagt, 
die Einzelstaaten seien zu Verwaltungsdistrikten des Reiches geworden, 
sie hätten aufgehört, Staaten zu sein. Sie haben vielmehr eine Fülle 
obrigkeitlicher Befugnisse und öffentlich-rechtlicher Macht kraft eige- 
nen Rechts; nicht durch Uebertragung vom Reich; nicht als Organe, 
deren sich das Reich bedient zur Erfüllung seiner Aufgaben, zur 
Durchführung seines Willens, sondern als selbständige Rechtssub- 
jekte mit eigener Herrschaftssphäre, mit selbständiger Voll- 
streckungsmacht, mit eigener Willens- und Handlungsfreiheit. Dadurch 
eben unterscheidet sich der zusammengesetzte Staat von dem de- 
zentralisierten Einheitsstaat, beziehentlich der Gliedstaat. vom Selbst- 
verwaltungskörper. Allerdings ist eine Einschränkung hinzuzufügen. 
Das Reich hat nämlich nach Art. 78 ideell eine unbegrenzte Kompetenz; 
es kann die verfassungsmäßig festgestellte Grenze zwischen seiner 
Machtsphäre und der Machtsphäre der Einzelstaaten in der Form der 
Verfassungsänderung einseitig, d.h. ohne Zustimmung der einzel- 
nen Gliedstaaten, verändern; es kann also den Gliedstaaten die ihnen 
verbliebenen Hoheitsrechte entziehen. In einem gewissen Sinne kann 
man daher sagen, daß die Einzelstaaten ihre obrigkeitlichen Rechte 
nur durch die Duldung des Reiches, nur precario, haben, daß ideell 
das Reich die staatliche Gewalt in voller Integrität besitze und daß die 
Einzelstaaten auch diejenigen Rechte, auf welche sich die Kompetenz 
des Reiches nicht erstreckt, ebenso wie diejenigen, welche ihnen das 
Reich innerhalb seiner Kompetenz zuweist, nur durch den Willen des 
Reiches haben !). 
Damit ist aber nur gesagt, was überhaupt von allen Rechten gilt, 
auch von sämtlichen Berechtigungen des Privatrechts, daß sie nämlich 
nur bestehen, so lange eine höhere staatliche Macht sie duldet. Es ist 
gewiß, daß der souveräne Staat Eigentum, Lehnrecht, die Gültigkeit 
gewisser Obligationen, die väterliche Gewalt u. s. w. abzuschaffen ver- 
mag; daß jeder Staatsbürger jedes einzelne Vermögensrecht nur hat 
in dem Umfange und so lange, als der Staat es duldet. Aber dessen 
ungeachtet wäre es eine verkehrte Anschauung, alle Vermögens- und 
Familienrechte der Individuen als vom Staate abgeleitete, von ihm 
übertragene Rechte zu bezeichnen; der Staat ist nicht positiv Ursprung 
und Quelle, Schöpfer und Träger dieser Rechte, sondern sein Wille 
ist nur ein negatives Erfordernis, indem Rechte, welche der Staat 
nicht duldet, nicht entstehen oder fortbestehen können. Ganz in 
1) In dieser Richtung bewegen sich namentlich die Ausführungen von Zorn, 
Staatsr. I, S. 112 ff. und von Tezner in Grünhuts Zeitschr. Bd. 21, S. 216 ff. (1893).
	        
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