8 11. Die Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich. 111
darin besteht, das von den Behörden des betreffenden Staates befolgte,
den Reichsgesetzen für widersprechend gehaltene Verfahren zur Kennt-
nis des Reichskanzlers zu bringen!). Der Beschwerdeführer hat kein
Recht darauf, daß der Reichskanzler einschreitet; er ist an der Be-
handlung seiner Beschwerde nicht beteiligt, ja er kann nicht einmal
verlangen, daß er auf seine Beschwerde einen Bescheid bekommt.
Andrerseits ist die Ausübung der Beaufsichtigung nicht davon ab-
hängig, daß eine Beschwerde erhoben ist; der Reichskanzler kann
aus eigener Initiative einschreiten und zwar auch dann, wenn Privat-
interessen nicht verletzt sind). Die Reichsaufsicht darf nicht lediglich als
Rechtskontrolle aufgefaßt werden. Es ist in das Ermessen des Reichs-
kanzlers gestellt, ob er durch das Verhalten der Landesbehörden ein
so erhebliches Interesse des Reichs oder anderer Bundesglieder oder
der Untertanen für bedroht oder verletzt erachtet, daß er sich zu einem
Einschreiten veranlaßt sieht.
IV. Wenn der Kaiser (Reichskanzler) auf Grund des Aufsichtsrechts
die Abstellung eines reichsgesetzwidrigen Verhaltens von einem Einzel-
staat verlangt, so richtet sich dieses Verlangen gegen den Einzelstaat
als solchen). Der Reichskanzler kann den Landesbehörden nicht
von Aufsichts wegen Vorschriften erteilen und in ihre amtliche Tätig-
keit eingreifen; er ist nicht ihr Vorgesetzter und hat über sie keine
Dienstgewalt und keine Dienstaufsicht. Der Reichskanzler kann sich
daher nur an die Zentralregierung des Einzelstaates mit dem Ersuchen
wenden, dem von ihm bemerkten Mangel abzuhelfen und es ist als-
dann Sache der Landesregierung, die erforderlichen Anordnungen zu
treffen ®).
Wenn die Landesregierung darauf beharrt, daß die von ihren Be-
hörden befolgte Auslegung. des Reichsgesetzes die richtige und die vom
Reichskanzler erhobene Rüge unbegründet sei, so steht Ansicht gegen
Ansicht. Dieser Konflikt ist kein Streit um ein Recht, sondern um
eine Rechtsmeinung und kann nicht im Wege eines Prozeßver-
fahrens zwischen Reich und Einzelstaat entschieden werden. Die
Entscheidung erfolgt vielmehr durch den Bundesrat, dessen Zuständig-
keit teils auf der ausdrücklichen Anordnung des Art. 7 Ziff.3 der RV.
teils auf der Stellung, welche der Bundesrat im Organismus des Reichs
einnimmt, beruht. Vgl. unten $29. Die Entscheidung des Bundesrats
ergeht nicht zwischen der beschwerdeführenden Partei und der Be-
hörde, welche das Reichsgesetz angeblich verletzt hat, sondern sie er-
1) Vgl. meine Ausführungen in Hirths Annalen 1873 S. 415. Thoma S. 485.
2) Auch in diesen Beziehungen ist die Reichsaufsicht von der Rechtsprechung
der Reichsgerichte völlig verschieden.
3) HänelS. 306 f.; Anschütz S. 614.
4) Dem staatsrechtlichen Grundgedanken gemäß geht das Ersuchen vom Kaiser
anden Landesherrn, wie Hänela. a. O. sehr zutreffend darlegt. Vgl. auch
SeydelS.62. Anderer Ansicht Zorn, Staatsrecht I S. 426 Note 58.