130 8 13. Die Existenz der Einzelstaaten.
drückung durch die Reichsgewalt allerdings geschützt ist; nicht aber
in dem Sinne, daß der Staat X. nicht gleichzeitig mitallen
übrigen Bundesgliedern durch eine fortschreitende Erweiterung der
Reichskompetenz und Unifizierung seine staatliche Individualität ver-
lieren und im Reichsstaat aufgehen könntet). Hiergegen haben die
Staaten keinen andern Schutz als den, daß 14 Stimmen im Bundesrat
genügen, um jede Kompetenzerweiterung des Reiches zu verhindern,
und dieser Schutz dürfte sich für sehr lange Zeit als völlig genügend
erweisen.
Völlig zweifellos ist es ferner, daß die Reichsverfassung jeden Bun-
desstaat vor gewaltsamen und widerrechtlichen Angriffen sichert. Der
Bund, der nach dem Eingange der Reichsverfassung »zum Schutze des
innerhalb des Bundesgebietes gültigen Rechts« geschlossen worden ist,
ist dadurch zum Wächter der Existenz und Integrität seiner Glied-
staaten gesetzt.
Die Frage, um welche es sich handelt, ist daher lediglich die, ob
die rechtmäßige Vereinigung mehrerer Staaten zu Einem, sei es
infolge des gültigen Thronfolgerechts?), sei es infolge rechtsgültiger
Staatsverträge, nur unter der, in der Form der Verfassungsänderung
auszusprechenden Genehmigung des Reiches erfolgen dürfe. Diese
Frage würde zu bejahen sein, wenn die Reichsverfassung die Fortdauer
derjenigen Staaten, welche bei der Reichsgründung vorhanden waren
und noch jetzt bestehen, ausdrücklich oder stillschweigend anordnen
würde. In diesem Falle würde jeder Rechtssatz eines partikulären
Thronfolgerechts, welcher zur Vereinigung eines Staates mit einem an-
dern oder zur Zerteilung eines Staates führen würde, der Reichsver-
fassung widersprechen und folglich nach Art. 2 der Reichsverfassung
aufgehoben sein, und aus demselben Grunde würde jeder Staatsvertrag,
durch welchen zwei Bundesglieder zu einem Staate sich vereinigen,
unwirksam sein, solange das Reich ihn nicht sanktioniert hätte. Einen
solchen Rechtssatz enthält die Reichsverfassung aber nicht).
Die deutschen Staaten werden an drei Stellen der Verfassung na-
mentlich aufgeführt: im Eingange, im Art. 1 und im Art. 6.
Der Eingang zur Verfassung berichtet, daß der König von Preußen
im Namen des norddeutschen Bundes und die süddeutschen Souveräne
einen ewigen Bund schließen. Diese Eingangsformel enthält überhaupt
1) Diesen Unterschied übersieht Riedel S. 8. Der von mir entwickelten An-
sicht hat sich Mejer, Einleitung S. 342 vollständig angeschlossen. Anderer Ansicht
SeydelS. 422.
2) Die Bemerkung von Seydel, Kommentar S.28, daß durch Thronfolgerecht
die Vereinigung zweier Bundesstaaten nicht bewirkt werden kann, ist richtig; es ge-
hören dazu Gesetzgebungsakte der zu vereinigenden Staaten; die Vereinigung kann
aber — wie es im Text heißt — infolge des Thronfolgerechts eintreten.
3) Demgemäß ist auch die Einverleibung des Herzogtums Lauenburg in die
preußische Monarchie durch das preußische Gesetz vom 23. Juni 1876 ohne einen
Akt der Reichsgesetzgebung erfolgt.