154 8 16. Die Rechte der Reichsangehörigen.
Zwar ist die Duldung von Fremden; welche friedlich und den Ge-
setzen gemäß sich halten, eine völkerrechtliche Pflicht; aber es ist un-
bezweifelt, daß jeder Staat ganz unabhängig und frei prüfen kann, ob
er den ferneren Aufenthalt eines Ausländers in seinem Gebiet als mit
seinen Interessen verträglich erachtet und daß er, falls er dies ver-
neint, jeden Ausländer aus seinem Gebiet verweisen kann!) Eine
Landesverweisung der Staatsangehörigen dagegen
gibtes nicht?) Der Staatsangehörige, der sich gegen die Gesetze
vergeht, kann nach Maßgabe derselben bestraft, aber niemals aus dem
Staatsgebiete verwiesen werden. Demgemäß kann kein Reichsan-
gehöriger aus dem Reichsgebiet verwiesen werden, weder aus
polizeilichen noch strafrechtlichen Gründen. Durch das Gesetz über
die Freizügigkeit vom 1. November 1867, $ 1°) ist dieses
staatsbürgerliche Grundrecht gewährleistet. Das Strafgesetzbuch kennt
dementsprechend die Strafe der Landesverweisung gegen Reichsange-
hörige nicht, wohl aber gegen Ausländer $ 39, Abs. 2, 8 284, Abs. 2,
& 362, Abs. 3). Das Gesetz, betreffend den Orden der Gesellschaft Jesu,
1) Es ist schon oft hervorgehoben worden, daß der wesentlichste Inhalt des In-
digenats oder der Staatsangehörigkeit in dem Wohnrecht besteht. Vgl. z.B.
Zöpfl LI, 8298, und besonders v. Bar, Internationales Privatrecht (2. Aufl.).I, S. 181.
Auch (Goltdammer) Archiv für Preuß. Strafrecht Bd. 16, S. 453. Indes ist fest-
zuhalten, daß ein Wohnrecht vertragsmäßig auch einem Fremden eingeräumt
werden kann, was in früherer Zeit z. B. hinsichtlich der Juden öfters vorkam (vgl.
Otto Stobbe, Die Juden in Deutschland während des Mittelalters S. 23 ff... In
neuester Zeit ist ein gegenseitiges Wohnrecht in einzelnen Staatsverträgen des
Reiches vereinbart worden. Die weitaus wichtigsten Fälle sind der Niederlas-
sungsvertrag mit der Schweiz vom3l. Mai 1890 (Reichsgesetzbl. 1890, S. 131)
und mit den Niederlanden v. 17. Dez. 1904 (RGBl. 1906 S. 879). In dem ersteren
werden im Art. 2 und 3 die Gewährung der Niederlassung und des Gewerbebetriebs
der beiderseitigen Staatsangehörigen ausdrücklich als „Rechte“ derselben bezeichnet
und der Art. 1 des deutsch-niederl. Vertrages beginnt mit den Worten: „die Ange-
hörigen jedes vertragschließenden Teiles sollen berechtigt sein“. Diese Bestim-
mungen sind durch die Sanktion und Verkündigung der Verträge Reichsgesetz ge-
worden; sie haben also nicht nur zwischenstaatliche (völkerrechtliche), sondern auch
innerstaatliche (gesetzliche) Geltung. Daß diese „Rechte“ an gewisse Bedingungen
geknüpft und gewissen Einschränkungen unterworfen sind, steht ihrem Charakter als
individuelle Rechte nicht entgegen, wie Jellinek, System S. 120 Note 2 behauptet.
Vgl. die Erörterung von v. ÖOverbeck, Niederlassungsfreiheit und Ausweisungsrecht
1907, S. 387 ff. (Freiburger Abhandlungen, Heft 10); A. Heinrichs, Deutsche Nie-
derlassungsverträge und Uebernahmeabkommen. Berl. 1908. Vgl. ferner den Staats-
vertrag mit Tonga Art.6 (Reichsgesetzbl. 1877, S. 520), mit Ha wai Art. 2 (Reichs-
gesetzbl. 1880, S. 122), mit Samoa Art. 6 (Reichsgesetzbl. 1881, S. 31).
2) Im früheren Rechte kam dieselbe allerdings vor; mit dem modernen Staats-
begriff ist sie ganz unvereinbar. Vgl. auch Zachariä Il, S. 301; die bei Zöpfl II,
8 298, Note 3 angeführten Verfassungsbestimmungen; v. Rönne, Preuß. Staatsrecht
II, 2, 8 335; v. Martitz in Hirths Annalen 1875, S. 800; derselbe, Internationale
Rechtshilfe in Strafsachen I, S. 13ff.; v. Bar S. 182, 183.
3) „Jeder Bundesangehörige hat das Recht, innerhalb des Bundesgebietes
an jedem Orte sich aufzuhalten oder niederzulassen, wo er eine eigene
Wohnung oder ein Unterkommen sich zu verschaffen im stande ist.“