Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

164 S$ 18. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit. 
mittelpunkten mit schnell wechselnder Bevölkerung wird bald in ver- 
hältnismäßig kurzer Zeit auch die ansässige Bevölkerung aus Staats- 
angehörigen der verschiedensten Bundesstaaten zusammengesetzt sein, 
von denen jeder seine Staatsangehörigkeit in alle Ewigkeit vererben 
und in jeden beliebigen Bundesstaat mitnehmen kann. Es muß dies 
notwendig dahin führen, die Staatsangehörigkeit immer mehr der Reichs- 
angehörigkeit gegenüber zurücktreten zu lassen !). 
Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Kind aus einer gültigen oder 
aus einer nichtigen Ehe entsprossen ist und als ein eheliches oder un- 
eheliches gilt, ob es also der Staatsangehörigkeit des Vaters oder der- 
jenigen der Mutter folgt, kommt nach allgemeinen Grundsätzen über 
die Herrschaft der Rechtsnormen hinsichtlich der materiellen Erfor- 
dernisse der Ehe das Recht des ersten Ehedomizils, hinsichtlich der 
Form der Eheschließung das Recht des Orts, an welchem dieselbe 
stattgefunden hat, zur Anwendung?) Hinsichtlich der im deutschen 
Reichsgebiet geschlossenen Ehen von Reichsangehörigen kommen jetzt 
die Regeln des Bürgerlichen Gesetzbuchs über die Voraussetzungen 
und Formen einer gültigen Ehe, sowie über die Anfechtbarkeit und 
Nichtigkeit der Ehe zur Anwendung und zwar auch in Bayern’). In 
betreff der im Auslande geschlossenen Ehen von Deutschen gilt das 
Gesetz vom 4. Mai 1870 (Bundesgesetzbl. S. 599) mit den im Art. 40 
des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche getroffenen 
Abänderungen; jedoch findet außerdem der Grundsatz des Art. 11 des 
Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche Anwendung, daß 
hinsichtlich der Form eines Rechtsgeschäfts die Beobachtung der Ge- 
Gemeindeangehörigkeit und die Ausübung der wichtigsten politischen Rechte vom 
Besitz der Staatsangehörigkeit abhängig sind, wird sie nicht dagegen schützen, sich 
für Sachsen zu halten. Schon jetzt zeigt sich bei der Ableistung des Fahneneides, 
daß die Rekruten als ihren Heimatsstaat meistens den Staat ihres Domizils oder ihrer 
Geburt angeben; die strenge Durchführung des Abstammungsprinzips müßte zu un- 
überwindlichen .Schwierigkeiten führen. Vgl. meine Ausführungen in der deutschen 
Juristenzeitung 1904, S. 9 fg. 
1) Vgl. unten über Elsaß-Lothringen $ 67, sub VIII. Daselbst gilt bereits ein 
durchaus anderes Prinzip. 
2) Diese Regeln sind noch jetzt von Wichtigkeit hinsichtlich der vor dem In- 
krafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches geschlossenen Ehen und geborenen Kinder. 
3) Der Vorbehalt in dem Schlußprotokoll vom 23. November 1870, Ziff. 1, daß 
die Bundesgesetzgebung nicht zuständig sei, „das Verehelichungswesen mit verbind- 
licher Kraft für Bayern“ zu regeln, bezieht sich nur auf die polizeilichen Be- 
stimmungen über die Eheschließung und die Folgen der Eheschließung für die Hei- 
mats- und Niederlassungsverhältnisse. Denn die Zuständigkeit des Reichs zur bürger- 
lichen Gesetzgebung in Ehesachen bestand damals überhaupt noch nicht; sie wurde 
erst durch das Gesetz vom 20. Dezember 1873 begründet; Bayern konnte daher nicht 
1870 von ihr eximiert werden. Von der Zuständigkeit des Reichs zur Gesetzgebung 
über das bürgerliche Recht ist für Bayern kein Vorbehalt gemacht worden. Alle in 
das Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommenen Bestimmungen haben aber den Charakter 
privatrechtlicher Vorschriften, gelten also ausnahmslos auch in Bayern. Ja- 
strow im Arch. f. öff. R. Bd. 12, S. 1ff.
	        
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