Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

8 22. Gebietsveränderungen. 199 
Da nun die räumliche Erstreckung eines Staates ohne dessen 
Willen nicht verändert werden kann, so ergibt sich, daß das Bundes- 
gebiet nicht ohne den in verfassungsmäßiger Form erklärten Willen 
des Reiches abgeändert werden kann; d. h. daß ein in den Formen 
der Verfassungsänderung (Art. 78, Abs. 1) beschlossenes Reichsgesetz 
dazu erforderlich ist. Hieraus ergeben sich zwei unzweifelhafte Rechts- 
sätze, nämlich: 
1. Kein Staat darf Gebietsteille ohne Genehmigung des Reiches an 
einen außerdeutschen Staat abtreten oder aus dem Reichsgebiet los- 
lösen; es ist hierzu ein verfassungsänderndes Reichsgesetz erforderlich. 
2.Erwerbungen von außerdeutschem Lande, welche ein Einzel- 
staat macht, gehören nicht ipso jure zum Bundesgebiet; es ist hierzu 
ebenfalls ein verfassungsänderndes Reichsgesetz erforderlich !). 
Zweifelhaft kann es dagegen erscheinen, ob das Reich befugt ist, 
Gebietsteile eines Einzelstaates ohne dessen Zustimmung an außer- 
deutsche Staaten abzutreten oder aus dem Bundesgebiet auszuschließen, 
und ob es dem Einzelstaat verwehrt ist, ohne Zustimmung des Reiches 
außerdeutsche Gebietsteile zu erwerben, welche nicht dem Bundes- 
gebiet einverleibt werden. 
1. Bei der ersten dieser beiden Fragen ist zu unterscheiden zwi- 
schen freiwilligen (im Frieden getroffenen) Maßregeln und gezwungenen 
Abtretungen (Friedensbedingungen). 
a) Das Recht des Reiches, einzelne Teile eines Staates aus dem 
Reichsgebiet auszuschließen, ohne die Zustimmung dieses Staates, 
z. B. der Gebietsteile Preußens mit polnisch redender Bevölkerung, 
ist unbedingt zu verneinen. Jeder Staat hat ein Recht auf die Mit- 
gliedschaft für seinen Gesamtbestand, in seiner Integrität. Er kann 
weder ganz noch teilweise aus dem Reich ausgeschlossen ?, er kann 
nicht in seinem Bestande zerrissen und zersplittert werden, indem 
ein Teil seines Gebietes aus der im Reiche vollzogenen staatlichen 
Einigung herausgerissen wird. Es ergibt sich dies aus dem, was oben 
8 12 über die Mitgliedschaftsrechte der Einzelstaaten entwickelt wor- 
den ist. 
Aber auch mit Zustimmung des Staates kann ein Teil seines Ge- 
bietes nicht aus dem Reichsgebiet ausgeschlossen werden und zugleich 
ein Teil dieses Staates bleiben. Es würde dies eine Zerreißung dieses 
Staates herbeiführen; er würde zum Teil souverän, zum anderen Teil 
nicht souverän sein und es würde unvereinbar sein mit dem im Art. 1 
der Reichsverfassung an die Spitze gestellten Prinzip, daß das Bundes- 
— 
1) A. A. Tinsch, Das Recht der deutschen Einzelstaaten bezw. des Abschlusses 
völkerrechtlicher Verträge 1882, S. 43. Vgl. dagegen Zorn], S. 102, v. Sarwey, 
Württemb. Staatsrecht I, S. 32 fg., Sieskind S. 15. Anschütz Enzykl. S. 526. 
2) Vgl. auch v. Mohl, Reichsstaatsrecht S. 11; G. Meyer 8 164, Note 13. Da- 
selbst reiche Literaturangaben.
	        
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