8 22. Gebietsveränderungen. 203
unter den deutschen Staaten hat an politischer Bedeutung fast den
größten Teil eingebüßt; denn das abgetretene Stück bleibt, wenn es
auch die Staatsangehörigkeit wechselt, der souveränen Reichsgewalt,
der Reichsgesetzgebung, den vom Reich erforderten Lasten und Leis-
tungen u. s. w. in derselben Weise wie bisher unterworfen. Gebiets-
abtretungen unter den Bundesstaaten verhalten sich zu Gebietsabtre-
tungen an auswärtige Staaten etwa wie Ueberwanderungen zu Aus-
wanderungen. Für das Reich besteht der Regel nach gar kein rechtliches
Interesse, ob ein Stück des Bundesgebietes zu diesem oder jenem
Einzelstaat gehört. Selbstverständlich ist es, daß kein Stück des Bundes-
gebietes den Hoheitsrechten des Reiches ohne Zustimmung des letzteren
dadurch entzogen werden kann, daß es an einen, mit Reservatrechten
ausgestatteten Staat, z. B. an Bayern, abgetreten wird; es könnte an
Bayern nur in derjenigen rechtlichen Lage, in welcher es sich vor der
Abtretung befand, übergehen.
Ebenso ist es selbstverständlich, daß, wenngleich die Abtretung
von Gebietsteilen an einen anderen deutschen Staat der Reichsgenehmi-
gung nicht bedarf, dennoch ein Reichsgesetz in dem Falle erforderlich
ist, wenn zugleich das Stimmenverhältnis im Bundesrat und die Ab-
grenzung der Reichstagswahlkreise verändert werden sollen'). Endlich
ist es zweifellos, daß, insoweit Gebietsveränderungen zugleich eine Ver-
änderung der Bevölkerungszahlen herbeiführen, die Berück-
sichtigung dieses Umstandes bei allen Verteilungen von Lasten und
Rechten, welche nach Maßgabe der Bevölkerungsziffern erfolgen, z. B.
der Matrikularbeiträge, der Ueberweisungen, der Rekrulengestellung,
nicht direkt unter den Staaten, welche den Gebietsaustausch vor-
nehmen, bewirkt werden kann, sondern eines Bundesratsbeschlusses
bedarf?).
Die richtige Ansicht) ist auch in der Praxis befolgt worden,
indem seit Gründung des Norddeutschen Bundes sehr zahlreiche
Gebietsveränderungen und Grenzregulierungen unter den deutschen
Staaten stattgefunden haben, ohne daß jemals die Zustimmung des
Norddeutschen Bundes oder des Deutschen Reiches erteilt worden ist‘®).
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1) Vgl. Reichsges. v. 18. Februar 1906 (RGBl. S. 317).
2) Vgl. z. B. Bundesratsprotokoll 1874, 8 348, S. 244 fg., über den preuß.-oldenb.
Gebietsaustausch vom 8. April 1873, und Bundesratsprotokoll 1875, $ 229, S. 194, we-
gen Wolde und der Teilung des Kommunionharzes.
3) Dieselbe ist auch in der Theorie die überwiegende. Vgl. die zahlreichen Zitate
bei Meyer 8 164, Note 16; A. A. Zorn LS. 102; Bansi S. 686.
4) Beispiele bei Ernst Meier, Ueber den Abschluß von Staatsverträgen (1874)
S. 253 ff. Seitdem sind viele Fälle hinzugekommen.