Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

218 8 24. Die staatsrechtliche Natur des Kaisertums. 
ragendsten und größten der Mitgliedsstaaten ist unter ihnen primus. 
Hinsichtlich der eigentlichen Kaiserrechte gibt es keine pares, weil es 
überhaupt nicht mehrere Berechtigte gibt. Die Präsidialrechte stehen 
nicht mehreren Bundesfürsten kollektiv oder nach räumlich be- 
grenzten Teilen des Bundesgebietes!), sondern dem Könige von Preu- 
Ben allein zu. 
Man muß nun aber ferner unterscheiden zwischen dem Rechte 
auf die kaiserliche Stellung und dem Inhalte der letzteren selbst. 
Ihrem Inhalte nach sind die Rechte des Kaisers nicht Rechte 
Preußens, sondern des Reiches. Der Kaiser übt als ein Organ des 
Reiches die dem letzteren zustehenden Souveränitätsrechte aus, soweit 
die Verfassung oder Gesetze des Reiches ihn dazu berufen. Da die 
einzelnen deutschen Staaten und ihre Landesherren der Souveränität 
des Reiches untergeordnet sind, so sind sie auch dem Kaiser, als dem 
verfassungsmäßigen Willensorgan des Reiches, untergeordnet; zwar 
nicht dem Kaiser als physischer Person, sondern begrifilich nur dem 
Reich als ideeller oder juristischer Person; wirksam wird diese Unter- 
ordnung aber gegenüber dem Kaiser insofern, als er einen bedeuten- 
den Teil der dem Reiche zustehenden staatlichen Hoheitsrechte hand- 
habt und verwaltet. 
Hieraus und aus dem oben entwickelten Begriff des Bundesstaates 
folgt weiter, daß der Kaiser nicht Kokektivmandatar der einzelnen 
deutschen Bundesfürsten oder Bundesstaaten ist?).. Er leitet seine 
Machtbefugnisse und Hoheitsrechte nicht ab von den Bundesgliedern, 
welche als Einzelne unter der Souveränität des Reiches stehen, son- 
dern von dem Reiche selbst, welches eine souveräne Gewalt über 
den Bundesstaaten ist. Sind auch die Bundesglieder in ihrer Gesamt- 
heit Subjekt der Reichsgewalt, so sind sie doch als Einzelne Unterta- 
nen der Reichsgewalt, während der Kaiser das Organ derselben ist. 
Und zwar ist der Kaiser der einzige Bundesfürst, welcher indivi- 
duell einen Anteil an der Regierung des Reiches hat. Alle übrigen 
Bundesfürsten haben als Einzelne keinerlei Funktionen an der Le- 
benstätigkeit des Reiches auszuüben, sondern nur als Gesamtheit 
durch das Instrument des Bundesrats. Der Kaiser ist das einzige 
Bundesmitglied, welches zugleich Organ der Reichsge- 
walt ist. 
Es folgt endlich hieraus, daß zwar das Recht auf die Kai- 
serwürde ein Sonderrecht Preußens ist, die einzelnen Präsidial- 
befugnisse selbst dagegen nicht unter den Begriff der Sonderrechte 
eines Mitgliedes fallen. Vielmehr bilden die Präsidialbefugnisse einen 
Teil der Organisation, welchen die Reichsgewalt erhalten hat, und sind 
1) Bekanntlich sollte nach den preuß. Reformvorschlägen vom 10. Juni 1866 der 
König von Preußen Bundesoberfeldherr der Nordarmee, der König von Bayern Bun- 
desoberfeldherr der Südarmee werden. 
2) Dies ist die Auffassung Seydels, Kommentar S. 126.
	        
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