Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

270 $ 29. Der Bundesrat als Organ des Reiches. 
nur dadurch bindende Kraft und rechtliche Bedeutung erlangt, daß es 
der Bundesrat bestätigt !). 
Aus der Natur der Sache ergibt sich, daß es den streitenden Staa- 
ten unbenommen ist, durch Kompromiß oder durch irgend eine Form 
der Austräge ihren Zwist zu entscheiden. Der Art. 76 will nicht dem 
Bundesrate eine ausschließende richterliche Kompetenz bei Streitig- 
keiten unter den deutschen Staaten beilegen, sondern er will nur ein 
Mittel gewähren, um den Landfrieden für alle Fälle aufrecht halten 
zu können. Da der Krieg unter den im Reiche staatlich verbundenen 
Gliedern absolut ausgeschlossen ist, so muß eine Instanz vorhanden 
sein, welche Streitigkeiten zu erledigen vermag, wenn alle sonst zulässigen 
Mittel einer friedlichen Entscheidung erschöpft sind. Deshalb ist die 
Kompetenz des Bundesrates dann nicht begründet, wenn keiner der 
streitenden Staaten seine Einmischung anruft. 
Ueber das Verfahren, welches der Bundesrat einzuschlagen hat, 
wenn derselbe angerufen wird, hat weder die Gesetzgebung noch die 
Praxis bisher Regeln aufgestellt. Es steht aber nichts im Wege und 
würde sich aus praktischen Gründen wohl empfehlen, diejenigen Vor- 
schriften zur Anwendung zu bringen, welche zu Zeiten des Deutschen 
Bundes für das Bundesausträgalverfahren bestanden haben ?), 
Auch in dem in der Wiener Schlußakte Art. 30 vorgesehenen Falle, 
daß Forderungen von Privatpersonen deshalb nicht befriedigt werden 
können, weil die Verpflichtung, denselben Genüge zu leisten, zwischen 
mehreren Bundesgliedern zweifelhaft oder bestritten ist?),, wird der 
Bundesrat regelmäßig entweder wegen Art. 76, Abs. 1 oder wegen 
Art. 77 zur Erledigung der Streitfrage kompetent sein‘), soweit nicht 
infolge des Gesetzes vom 6. Juni 1870, $ 37 ff. das Reichsamt für das 
Heimatswesen zur Entscheidung berufen oder die Kompetenz des 
Reichsgerichts begründet ist, was regelmäßig der Fall sein wird. 
5. An der äußersten Grenze einer richterlichen oder quasirichter- 
lichen Tätigkeit steht endlich die durch Art. 76, Abs. 2 dem Bundesrate 
zugewiesene Aufgabe °): 
1) Ein Vorfall dieser Art war die Erledigung des Streites zwischen Preußen und 
Sachsen wegen der Berlin-Dresdener Eisenbahn im Jahre 1877. Um die Urteilsfällung 
wurde das damalige Oberappellationsgericht zu Lübeck ersucht. Vgl. Hirths Annalen 
1877, S. 993. Ein anderes Beispiel ist der Streit zwischen Mecklenburg und Lübeck 
wegen der Hoheitsrechte an der Trave, welchen das Reichsgericht als Austrägalge- 
richt durch Urteil vom 21. Juni 1890 entschieden hat. Einige andere minder wichtige 
Fälle bei Seydel, Kommentar S. 407. 
2) Vgl. über das Bundesausträgalverfahren Klüber 8 172ff.; Zöpfl I, 8 159 ff.; 
Zachariä ll, $ 267, 270f., woselbst auch die Literatur angegeben ist. 
3) Das Nähere bei Klüber 8 176; Zöpfl], 8 157; Zachariäll, $S 273. 
4) Es ist allerdings zuzugeben, daß Fälle denkbar sind, welche weder unter 
Art. 76, Abs. 1, noch unter Art. 77 fallen; derartige Fälle werden aber gewiß in der 
Praxis höchst selten vorkommen. 
5) Art. 76, Abs. 2 der Reichsverfassung ist an die Stelle des Bundesbeschlusses 
vom 30. Oktober 1834 getreten. Vgl. über den letzteren Zöpfl1I, S 166; Zachariä
	        
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