& 29. Der Bundesrat als Organ des Reiches. 273
der Reichsverfassung den Reichsgesetzen beigelegte Wirkung, daß sie
den Landesgesetzen vorgehen, kommt auch einem auf Grund des
Art. 76, Abs. 2 erlassenen Reichsgesetze zu, welches das bisherige
Staatsrecht eines Bundesgliedes abändert.
Es ist dies in zweifacher Beziehung bemerkenswert. Erstens ergibt
sich auch hieraus, daß nicht der einzelne Bundesstaat auf dem seiner
Autonomie überlassenen Gebiete souverän ist, sondern daß über ihm
die Reichsgewalt als die wirklich höchste, souveräne Gewalt steht.
Zweitens zeigt sich an der hier erörterten Funktion der Reichsorgane,
sowie überhaupt an der Gesamtheit der dem Bundesrate zugewiesenen
Tätigkeit, daß Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege nicht von-
einander scharf abgegrenzte Gebiete haben, sondern daß sie lediglich
Formen sind, in welchen die eine und unteilbare, der einheitlichen
Persönlichkeit des Staates entsprechende, Staatsgewalt zur Erscheinung
kommt und wirksam wird.
6. Einer besonderen Erörterung bedarf die Frage, ob und unter
welchen Voraussetzungen der Bundesrat zuständig ist, Streitig-
keiten über Thronfolge und Regentschaft zu entschei-
den. Diese Frage hat aus Anlaß des Thronfolgestreites in Lippe praktische
Bedeutung erhalten und ist zum Gegenstand mehrfacher Erörterungen
gemacht worden!). Aus Art. 76, Abs. 2 kann eine solche Zuständigkeit
nicht hergeleitet werden; denn eine Thronstreitigkeit ist keine »Ver-
fassungsstreitigkeit« im Sinne dieser Bestimmung; sie bildet keinen
Streit zwischen Regierung und Ständen, sondern unter mehreren
Prätendenten. Daß Art. 76, Abs. 2 sich auf Thronstreitigkeiten nicht
erstreckt, ergibt sich aus der Klausel: »in solchen Bundesstaaten, in
deren Verfassung nicht eine Behörde zur Entscheidung solcher
Streitigkeiten bestimmt ist«. Art. 76, Abs. 2 bezieht sich also nur auf
‚solche< Streitigkeiten, welche auch einer Behörde zur Entscheidung
überwiesen werden können. Auf Thronstreitigkeiten ist dies unan-
wendbar. Denn im monarchischen Staate leitet jede Behörde ihre
Zuständigkeit vom Monarchen ab und urteilt in seinem Namen; der
Monarch dagegen leitet seine Stellung als Oberhaupt des Staates nicht
Staatsgewalt eingreifen kann.“ Seydel, Kommentar S. 407. Vgl. auch Zorn],
S. 172; Schulze, Deutsches Staatsrecht II, S. 61.
1) Seydel, Kommentar S. 408; Derselbe, Abhandlungen. Neue Folge 1902,
S. 158—261 (eine Sammlung von scharfsinnigen, aber sehr tendenziösen Aufsätzen);
Kekulev. Stradonitz im Arch. f. öffentl. Recht XIV, S.1ff.;, Arndt in der
Deutschen Juristenzeitung III, S. 497 ff.; Binding, daselbst IV, S. 69 ff. Vgl. auch
G. Meyer 8212, Note 9u.12; Perels, Streitigkeiten deutscher Bundesstaaten 1900
(Berliner Diss.); Cybichowski Art. 76 der RV. 1902 (Straßb. Diss.); Krick, Der
Bundesrat als Schiedsrichter 1903 (Rostocker rechtsw. Studien Il, 2); v. Jagemann,
RV.S. 213ff.; Luther, Thronstreitigkeiten u. Bundesr., Berl. 1904 (Berliner Diss.);
Sievert, Zuständigk. des Bundesr. für Erledigung v. Verf. u. Thronfolgestreitigk.,
Berlin 1906.