278 S 30. Die formelle Erledigung der Geschäfte des Bundesrates.
schäftsordnungsmäßigen Weg der Behandlung nochmals von Anfang
an durchmachen.
4. Diese Vorschriften stehen formell noch in Geltung, haben aber
ihre praktische Bedeutung vollkommen verloren, da der Bundesrat
seit vielen Jahren ununterbrochen versammelt ist und die ihm ob-
liegenden Geschäfte eine Schließung seiner Sitzungen nicht gestatten.
Dadurch daß der Bundesrat eine ständige Gesandtenversammlung
geworden ist, ist de scheinbare Aehnlichkeit zwischen ihm und
dem Reichstag, welche durch Art. 12 der RV. hervorgerufen wird,
verschwunden.
II.Der Vorsitzim Bundesrate und die Leitung der
Geschäftesteht dem Reichskanzler zu, welcher vom
Kaiserzuernennen ist. Reichsverfassung Art. 15, Abs. 1.
1. Der Vorsitz im Bundesrate ist ein von der Präsidial-
stellung des Königs von Preußen abgeleitetes Recht. Dem Präsidium
Preußens im Bunde entspricht das Präsidium des stimmführenden
Bevollmächtigten Preußens im Bundesrate. Die Reichsverfassung gibt
diesem Verhältnis keinen unmittelbaren und bestimmten Ausdruck;
denn sie knüpft den Vorsitz im Bundesrate nicht an die Eigenschaft,
preußischer Bevollmächtigter zu sein, sondern an die Eigenschaft,
Reichskanzler zu sein. Sachlich besteht aber kein Unterschied, da der
Reichskanzler immer zugleich preußischer Bevollmächtigter zum
Bundesrate sein muß; denn der Kaiser als solcher kann keine Bundes-
ratsmitglieder ernennen, sondern nur der König von Preußen), der
Reichskanzler aber muß zufolge Art. 15 Mitglied des Bundesrates sein,
und zwar ein vom Kaiser ernanntes, woraus sich von selbst ergibt,
daß der Reichskanzler immer zu den vom Kaiser als König von Preußen
ernannten Bevollmächtigten gehören muß?), oder mit anderen Worten,
daß der Reichskanzler immer zugleich auch der (stimmführende) Be-
vollmächtigte des preußischen Staates ist°). In der alsbald zu erwähnen-
1) Siehe oben S. 238.
2) Daß der Reichskanzler zugleich „Mitglied“ des Bundesrates sein muß, ist die
übereinstimmende Ansicht sämtlicher Schriftsteller, mit alleiniger Ausnahme von
Hensel in Hirths Annalen 1882, S. 10 ff. (Hänel, S. 26, zitiert für die entgegen-
gesetzte Ansicht auch Thudichum, Verfassungsrecht S. 130, jedoch mit Unrecht.)
Hensel meint, der Reichskanzler brauche nur Vorsitzender, nicht auch zu-
gleich Mitglied zu sein; denselben Gedanken äußerte einmal Fürst Bismarck im
Reichstage am 13. Mai 1877 (Stenogr. Berichte S. 127). Diese Ansicht steht aber in
offenkundigem Widerspruch mit Art. 15 Abs. 2 der Reichsverfassung, wonach sich
der Reichskanzler „durch jedes andere Mitglied des Bundesrates“ vertreten lassen
kann. Eine andere Begründung der richtigen Ansicht versucht Hänela.a. 0. zu
geben, dieaber von Hensel S.11 treffend widerlegt wird. Uebrigens lehnt Hensel
S. 15 alle Konsequenzen, die sich aus seiner Ansicht ergeben würden, ausdrücklich
ab und beraubt sie dadurch jeder praktischen Bedeutung. Vgl. auch Seydel, Jahr-
buch S. 2933, in der Krit. Vierteljahrsschr. Bd. 24, S. 273 ff. und Kommentar S. 169,
und Meyer 8 124, Note 7, woselbst die Literatur zusammengestellt ist.
3) Vgl. auch unten S 40.