Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

8 32. Allgemeine Charakteristik des Reichstages. 295 
sequenz auch praktische Uebelstände mit sich brachte, so wurde be- 
reits durch das Reichsgesetz vom 24. Februar 1873 (Reichsgesetzbl. 
S. 45) diese, den zweiten Absatz des Art. 28 bildende, Verfassungsbe- 
stimmung wieder beseitigt. 
In dem Reichstage hat somit die dem Deutschen Reiche ange- 
hörende Bevölkerung als Gesamtheit eine einheitliche Vertretung 
gefunden. Mitgliedschaftsrechte der einzelnen Bundesglieder 
kommen in keiner Beziehung miittelst des Reichstages zur Ausübung, 
sondern der Reichstag ist ausschließlich ein Organ des Reiches als 
einer über den Einzelstaaten stehenden. staatlichen Ordnung. Demgemäß 
muß auch die Bevölkerung Elsaß-Lothringens zum Reichstage Abge- 
ordnete zu wählen berechtigt sein, weil sie staatsrechtlich ein Teil des 
deutschen Volkes ist, während elsaß-lothr. Stimmen im Bundesrat dem 
im Art.6 der RV. ausgesprochenen Prinzip und dem Begriff des Reichs- 
landes widerstreiten. 
Dem Wesen des Reichstages als einer Vertretung des gesamten 
deutschen Volkes entsprechend ist die Bestimmung des Wahlgesetzes 
vom 31. Mai 1869, $ 1 (Bundesgesetzbl. S. 145): 
»Wähler für den Deutschen Reichstag ist jeder Deutsche — — 
— — in dem Bundesstaate, wo er seinen Wohnsitz hat.« 
Wären die in Preußen, Sachsen, Bayern gewählten Reichstags- 
abgeordneten Vertreter der Angehörigen dieser Staaten, so könnten 
lJandesfremde Reichsangehörige an den Wahlen keinen Anteil 
nehmen; ist der Reichstagsabgeordnete aber ein Vertreter des gesamten 
deutschen Volkes, so genügt die Reichsangehörigkeit zur Begründung 
des Wahlrechts und es kann dasselbe ausgeübt werden, wo immer 
der Reichsangehörige im deutschen Reichsgebiete seinen Wohnsitz hat. 
Nur in einer Beziehung erweist sich der bundesstaatliche Charakter 
des Reiches auch hinsichtlich des Reichstages als wirksam und zwar 
in Bezug auf die Abgrenzung der Wahlkreise. Das Prinzip, daß der 
Reichstag eine Vertretung des gesamten Volkes ist, würde bei konse- 
quenter Durchführung die Wirkung äußern, daß die Wahlkreise ohne 
Rücksicht auf die Grenzen der Einzelstaaten ausschließlich nach der 
Einwohnerzahl und nach örtlichen Verhältnissen abgegrenzt würden. 
Diese Konsequenz ist jedoch nicht gezogen worden. Nach dem Wahl- 
gesetz vom 31. Mai 1869, $ 5 werden die Abgeordneten gewählt »in 
jedem Bundesstaate«. Kein Wahlkreis umfaßt Gebiete verschiedener 
Staaten. In einem Bundesstaate, dessen Bevölkerung 100 000 Seelen 
nicht erreicht, wird trotzdem ein Abgeordneter gewählt. Der Grundsatz, 
daß jeder Wahlkreis einen räumlich zusammenhängenden, möglichst 
abgerundeten Bezirk bilden solle, erleidet eine Ausnahme hinsichtlich 
der Enklaven. In dem Wahlgesetz, dem dazu erlassenen Reglement 
vom 28. Mai 1870 Anlage C (Bundesgesetzbl. S. 289) und dem Art. 20 
der Reichsverfassung wird ein Katalog aufgestellt, wie viele Abgeordnete 
auf de einzelnen Staaten kommen. Hiernach kommt, während
	        
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