Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

296 8 32. Allgemeine Charakteristik des Reichstages. 
in subjektiver Beziehung die Staatsangehörigkeit der Wähler für 
die Wahlberechtigung juristisch unerheblich ist, in räumlicher Be- 
ziehung die Staatsangehörigkeit des Gebietes in Betracht, und da tat- 
sächlich die überwiegende Masse der Bevölkerung eines Gebietes die 
Staatsangehörigkeit des letzteren teilt, so ist in Rücksicht auf die Bildung 
der Wahlkörper die Gliederung des »gesamten« deutschen Volkes in 
Bevölkerungen der Einzelstaaten keineswegs ganz wirkungslos. 
Von den Mitgliedern des Reichstages wird im Art. 29 derselbe 
Ausdruck gebraucht wie im Art. 6 von den Mitgliedern des Bundes- 
rates; sie sind »Vertreter«e. Während aber die Bundesratsmitglieder 
gerade darum, weil sie Vertreter der Bundesglieder sind, an ihre Aufträge 
und Instruktionen sich halten müssen, sind die Mitglieder des Reichs- 
tages als Vertreter des »gesamten Volkes« an Aufträge und Instruktionen 
nicht gebunden. Die praktische Tendenz dieser Bestimmung ist zwar 
nur die, den Gedanken auszuschließen, daß der einzelne Reichstags- 
abgeordnete ein Bevollmächtigter oder Mandatar desjenigen Wahlkörpers 
sei, dem er seine Berufung in den Reichstag verdankt; für die theo- 
retische Betrachtung ergibt sich aber dieser Satz lediglich als eine 
logische Konsequenz eines viel tiefer liegenden, allgemeinen Prinzips. 
Ebensowenig wie die Reichstagsmiitglieder an Aufträge und Instruktionen 
der einzelnen Wahlkörper gebunden sind, ebensowenig sind sie an 
Aufträge und Instruktionen des »gesamten Volkes« gebunden; sie sind 
überhaupt keine Vertreter in dem Sinne, wie dieser Ausdruck im Art. 6 
von den Bundesratsmitgliedern und wie er in der Rechtswissenschaft 
technisch gebraucht wird; sie haben keine Vollmacht und keinen Auf- 
trag, und zwar deshalb nicht, weil es an einem Rechtssubjekt fehlt, 
welches ihnen Vollmacht oder Auftrag erteilen könnte. Die einzelnen 
Staaten sind Rechtssubjekte, deshalb können sie im Bundesrat durch 
Vertreter ihre Rechte und ihren Willen geltend machen. Das gesamte 
deutsche Volk hat keine vom Deutschen Reiche verschie- 
dene und ihm gegenüber selbständige Persönlichkeit, ist kein Rechts- 
subjekt und hat juristisch keinen Willen; es ist daher außer Stande, 
eine Vollmacht oder einen Auftrag zu erteilen und Rechte oder Willensakte 
durch Vertreter auszuüben. Eine positive, juristische Bedeutung hat 
die Bezeichnung der Reichstagsmitglieder als Vertreter des gesamten 
Volkes daher nicht; im juristischen Sinne sind die Reichstagsmitglieder 
niemandes Vertreter; ihre Befugnisse sind nicht von einem anderen 
Rechtssubjekt abgeleitete, sie beruhen unmittelbar auf der Verfassung; 
es gibt keinen einzigen Punkt in der ganzen Rechtsstellung der Reichs- 
tagsmitglieder, der von den Rechtsgrundsätzen über Stellvertretung, 
Vollmacht oder Mandat beherrscht würde!). Der Sinn der Redewen- 
  
1) Vgl. jetzt auch Rieker, Die rechtliche Natur der modernen Volksvertretung, 
Leipzig 1893, S. 47 fg. (Sonderabdruck aus der Zeitschrift für Literatur und Geschichte 
der Staatswissenschaften von ©. Frankenstein, Bd. 2, S. 1.)
	        
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