298 $ 33. Die Zuständigkeit des Reichstages.
welcher Wählerschaften, Parteien oder Bevölkerungsgruppen und seine
Befugnisse sind vollkommen unabhängig von dem Willen der Wahl-
berechtigten. Hieraus ergibt sich, daß die Reichstagsabgeordneten an
Instruktionen und Aufträge nicht gebunden sind, daß sie weder ihren
Wählern noch dem Vorstande einer Partei oder Fraktion rechtlich
Rechenschaft schuldig sind für die Ausübung ihrer öffentlichen Be-
fugnisse und deshalb auch nicht zur Verantwortung darüber gezogen
werden können, ferner daß ihnen die Mitgliedschaft im Reichstage von
ihren Wählern nicht entzogen werden darf, daß sie gegen ihre Wähler
keine Ansprüche auf Ersatz von Kosten und Auslagen haben u. s. w.}),
8 35. Die Zuständigkeit des Reichstages.
In Uebereinstimmung mit den allgemeinen Grundsätzen des kon-
stitutionellen Staatsrechts ist der Reichstag ein Organ des Reiches’),
welchem zwar eine sehr wesentliche und wichtige Mitwirkung bei den
Willenshandlungen des Reiches zusteht, welches aber nicht befugt ist,
1) Das Verbot des imperativen Mandats, welches 1789 aus dem Grundsatz der
Volkssouveränität hergeleitet wurde und aus der französischen Verfassung vom 3. Sep-
tember 1791, Art. 7 in alle anderen, auch alle deutsche Verfassungen übergegangen
ist, hat nach seiner Entstehung und seinem ursprünglichen Zweck den Sinn, einen
einheitlichen Volkswillen an die Stelle der politischen Sonderrechte der alten Stände,
des Adels, der Kirchen, Kommunen, Landschaften u. s. w. zu setzen. Man ging von
der Anschauung aus, daß es einen solchen einheitlichen Volkswillen gäbe und daß
daher jeder Abgeordnete fähig sei, bei jeder einzelnen Angelegenheit diesen einheit-
lichen Gesamtwillen zum Ausdruck zu bringen. Das hat sich allerdings alsbald als
ein optimistischer Irrtum erwiesen. Ein solcher einheitlicher Nationalwille besteht
nur in ganz seltenen Fällen, etwa bei Konflikten mit anderen Staaten. Gegen das
imperative Mandat im demokratischen Sinne sind die Verfassungssätze, welche
erklären, daß die Abgeordneten an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden sind,
nicht gemeint und tatsächlich machtlos. Sind auch solche Aufträge rechtlich unwirk-
sam, so ist doch die Wahl eines Abgeordneten, welcher ein imperatives Mandat über-
nommen hat, nicht gesetzlich ungültig und wird von den Volksvertretungen niemals
für ungültig erklärt. Das Verbot ist also eine lex imperfecta, deren Uebertretung
keine Rechtsfolgen hat, und es ist nicht an die Wähler gerichtet, hindert diese also
nicht, einen Kandidaten auf Grund bestimmter Versprechungen hinsichtlich seines
politischen Verhaltens zu wählen. Das Verbot des imperativen Mandats hat den
Partikularismus der Stände, im Deutschen Reich auch den der Landesvertretungen
überwunden, aber es berührt nicht den Partikularismus der Parteien und Fraktionen.
Vgl. Riekera.a. 0O.S.10fg.; P.. Dandurand, Le mandat imperatif, Paris 1896;
Nake, Das rechtl. Verhältnis des Volkes zu seiner Vertretung, Göttingen 1896;
meine Erörterung im Archiv f. öffentl. Recht XI, S. 277 ff.
2) Riekera.a O.S. 38ff. wendet sich gegen die Bezeichnung der Volksver-
tretung als Organ des Staates, jedoch aus gänzlich unzutreffenden Gründen, zu deren
Widerlegung hier kein Raum ist. Seine eigene Theorie, daß die Volksvertretung
kraft gesetzlicher Fiktion die Gesamtheit der Untertanen selbst ist ()),
scheint mir einer Widerlegung nicht zu bedürfen. Während die Wissenschaft sonst
überall bemüht ist, Fiktionen abzustreifen, soll man hier eine neue, dogmatisch völlig
wertlose und in hervorragendem Grade unnatürliche Fiktion in die Wissenschaft ein-
führen.