8 33. Die Zuständigkeit des Reichstages. 299
Handlungen selbst vorzunehmen, die Staatsgewalt des Reiches zu hand-
haben, das Reich zu vertreten. Ebenso wie der Bundesrat ist der
Reichstag darauf beschränkt, Beschlüsse zu fassen. Die staatsrecht-
lichen Befugnisse des Reichstages bestehen demnach nicht darin, daß
ein Teil der dem Reiche zustehenden Staatsgewalt von dem Reichstage
ausgeübt oder die Machtvollkommenheit des Reiches durch ihn be-
schränkt wird; sondern Kaiser und Bundesrat sind bei der gesamten
Regierung des Reiches teils an die Zustimmung, teils an die Kontrolle
des Reichstages gebunden. Es läßt sich die dem Reichstage zustehende
Kompetenz gerade aus diesem Grunde nicht in eine Anzahl einzelner,
bestimmter Befugnisse auflösen; alle Kataloge!) der Rechte, welche
dem Reichstage zustehen, geben ein ungenaues und schiefes Bild seiner
staatsrechtlichen und politischen Stellung; seine Teilnahme am Leben
des Reiches durchdringt dieses Leben in allen Beziehungen und nach
allen Richtungen. Keine Aufgabe, welche das Reich als der souveräne
deutsche Staat zu erfüllen hat, kein Gebiet des nationalen Gesamtlebens,
auf welches die Fürsorge des Reiches sich erstreckt, bleibt von der
Teilnahme und Mitwirkung des Reichstages ausgenommen. Materiell
reicht die Zuständigkeit des Reichstages genau ebenso weit wie die
Zuständigkeit des Reiches.
Die Frage nach der Kompetenz des Reichstages ist vielmehr zurück-
zuführen auf die Untersuchung, welche Formen für die Willens-
tätigkeit des Reiches vorgeschrieben sind, um dem Reichstage die
Mitwirkung und Teilnahme an dieser Willenstätigkeit zu sichern. Soweit
die Fassung eines rechtlich verbindlichen Entschlusses, die Ausübung
eines staatlichen Hoheitsrechts an eine Form gebunden ist, welche die
Zustimmung und Mitwirkung des Reichstages in sich schließt, soweit
ist der Reichstag an dieser Willensentscheidung und an diesem Hoheits-
rechte mitbeteiligt. Diese Formen geben die Grenzlinie an, durch
welche diejenigen Akte der Reichsgewalt, zu deren Gültigkeit die Zu-
stimmung des Reichstages erforderlich ist, von denen getrennt werden,
welche dieser Zustimmung nicht bedürfen.
In dieser Beziehung kommen folgende Punkte in Betracht:
I. Der Kardinalsatz, welcher für die staatsrechtliche Stellung des
Reichstages das eigentliche Fundament bildet, ist der, daß zu einem
Reichsgesetz ein Reichstagsbeschluß erforderlich ist. Reichsverfassung
Art. 5. Keine Rechtssatzung erlangt gesetzliche Gültigkeit, wenn sie
nicht der Reichstag genehmigt hat, es sei denn, daß eine ausdrückliche
Ermächtigung zu ihrem Erlaß durch Reichsgesetz erteilt worden ist.
Durch diesen Grundsatz ist der Regierung des Reiches jede Abänderung
des bestehenden Rechtszustandes, jede Maßregel, welche die Herstellung
eines neuen Rechtssatzes erfordert, jede Aufhebung gesetzlich begrün-
deter Einrichtungen ohne die Mitwirkung des Reichstages unmöglich
1) Vgl. z.B. Thudichum S. 212fg.; v. Rönne ILS. 265fg.; Riedel S. 3öfg.;
v. PözlS. 126£g.