Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

300 $ 33. Die Zuständigkeit des Reichstages. 
gemacht. Die Wirkung dieses Prinzips erstreckt sich gleichmäßig auf 
alle Gebiete der staatlichen Tätigkeit, Rechtspflege, Wohlfahrtspflege, 
Schutz gegen das Ausland, Finanzwesen. Die Gesetzgebung ist nicht 
ein Teil der Staatsgewalt, sondern eine Form, in welcher sie sich 
äußert; es gibt keine legislative Gewalt, sondern nur eine Betätigung 
der Staatsgewalt in der Form des Gesetzes. 
Die Mitwirkung des Reichstages an dem Erlaß von Gesetzen kann 
nicht nur erfolgen, wenn die letzteren vom Bundesrate vorgeschlagen 
sind, sondern der Reichstag kann auch seinerseits Gesetze vorschlagen ; 
er hat das sogenannte Recht der Initiative. Reichsverfassung Art. 23. 
Die Form des Gesetzes ist nicht nur anwendbar bei der Aufstellung 
von Rechtsnormen, sondern auch bei der Beschlußfassung über Ver- 
waltungsgeschäfte im umfassendsten Sinne dieses Ausdrucks. Soll der 
Reichstag eine positive Mitwirkung an der Erledigung dieser Geschäfte, 
resp. an der Entscheidung, ob und wie sie vorgenommen werden 
sollen, erhalten, so wird dieses Resultat dadurch erreicht, daß der 
Weg der Gesetzgebung vorgeschrieben wird. Die Reichsver- 
fassung enthält in sehr zahlreichen Artikeln eine solche Vorschrift!) 
und auch viele andere Reichsgesetze bestimmen, daß gewisse Angelegen- 
heiten durch Reichsgesetz geregelt werden sollen. 
II. Neben der Form des Gesetzes steht als fast ebenso weitreichend 
die Form der Genehmigung. Wo die Genehmigung des Reichs- 
tages gesetzlich erfordert wird, ist demselben politisch kein ge- 
ringeres Mitwirkungsrecht zugestanden als bei der Gesetzgebung. Allein 
staatsrechtlich besteht zwischen den beiden Formen ein sehr erheblicher 
Unterschied. Für ein Gesetz?) ist die Zustimmung des Reichstages 
begriffliche Voraussetzung; fehlt es an derselben, so ist das Gesetz 
nicht etwa bloß unter Verletzung des öffentlichen Rechtes zustande 
gekommen, sondern es ist überhaupt gar kein Gesetz. Ein ohne Zu- 
stimmung des Reichstages erlassenes Reichsgesetz ist eine contradictio 
in adjecto. In dem Gesetz erscheinen der Wille des Bundesrates und 
der Wille des Reichstages nicht getrennt; es enthält nicht zwei Willens- 
erklärungen von identischem Inhalt, sondern das Gesetz nimmt die 
übereinstimmenden Mehrheitsbeschlüsse von Bundesrat und Reichstag 
in sich auf, es verbindet sie formell zu einem einheitlichen Akt, zu einer 
Willenserklärung der einen einheitlichen Reichsgewalt. Im Gegensatz 
hierzu istdieGenehmigung des Reichstages alsdann vorgeschrieben, 
wenn es sich um Regierungsakte handelt, zu deren Vornahme formell 
der Bundesrat oder der Kaiser, resp. die Reichsbehörden, befugt sind, 
die ihrem Wesen nach auch ohne die Zustimmung des Reichstages 
vorgenommen werden könnten, deren Vornahme aber den dazu be- 
fugten Organen ohne diese Zustimmung untersagt ist. Werden diese 
1) Art. 3 Abs. 5; 18 Abs. 2; 41 Abs. 1; 46 Abs. 2; 58 Abs. 1; 60, 62 Abs. 2; 68, 
69, 70 Abs. 2; 73, 75, 76 Abs. 2; 78 Abs. 1. 
2) Selbstverständlich ist hier von Gesetzen im formellen Sinn die Rede.
	        
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