320 & 34. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
Wenngleich die Abgrenzung unter Berücksichtigung der lokalen Ver-
hältnisse nach dem Ermessen der kompetenten Behörden vorzunehmen
und erforderlichen Falles abzuändern ist, so sind doch bestimmte
Grundsätze vorgeschrieben, nach welchen die Behörden verfahren müs-
sen. Als Regel gilt der Satz, daß jede Ortschaft (Ortsgemeinde)
einen Wahlbezirk für sich bildet!).
Die Regel erleidet aber nach zwei Richtungen hin Ausnahmen.
Große Ortschaften können in mehrere Wahlbezirke geteilt werden,
und da kein Wahlbezirk mehr als 3500 Seelen nach der letzten all-
gemeinen Volkszählung enthalten darf, so ist eine Teilung großer Ort-
schaften vielfach notwendig?). Die Erstreckung eines Wahlbezirks über
die Grenzen der Ortschaft hinaus ist gestattet für einzelne bewohnte
Besitzungen und kleine Ortschaften ; eine Minimalgröße der Einwohner-
zahl eines Wahlbezirks ist jedoch nicht vorgeschrieben. Ueberdies
können solche Ortschaften, in welchen Personen, die zur Bildung des
Wahlvorstandes geeignet sind, sich nicht in genügender Anzahl vor-
finden, mit benachbarten Ortschaften zu einem Wahlbezirke vereinigt
werden). Andere Abweichungen von der Regel hinsichtlich der Bil-
dung der Wahlbezirke sind unstatthaft ‘).
VI Das Wahlverfahren.
1.DieAnordnungder Wahlen und die Festsetzung des Tages,
an welchem sie vorzunehmen sind, erfolgt durch kaiserliche Verord-
nung’). Ist die Legislaturperiode abgelaufen, so ergibt sich eine indirekte
Begrenzung der Frist, binnen welcher die Vornahme der Wahlen
angeordnet werden muß, aus der Vorschrift des Art. 13 der Reichs-
verfassung, daß die Berufung des Reichstages alljährlich stattfindet.
Ist aber der Reichstag aufgelöst worden, so müssen die Neuwahlen
innerhalb eines Zeitraumes von 60 Tagen stattfinden ®).
Die Wahlen sind nach dem Art. 20 der Reichsverfassung all-
gemeine, d.h. siesind der Regel nach im ganzen Bundesgebiete
an demselben Tage vorzunehmen’). Von diesem Grundsatz sind,
amtmann, in Baden die Bezirksräte; bisweilen auch die Gemeinde- oder Ortsbehörden
(z. B. in Sachsen, Mecklenburg-Schwerin, Sachsen-Weimar, Braunschweig); für die
Städte regelmäßig die Magistrate.
1) Wahlgesetz 8 6, Abs. 2. Wahlreglement 8 7, Abs. 1.
2) Wahlreglement 8 7, Abs. 3.
3) Wahlreglement $ 7, Abs. 2. 4) Seydel S. 369, Note 2.
5) Wahlgesetz 8 14. Wahlreglement $ 9, Abs. 1.
6) Reichsverfassung Art. 25. Der Ausdruck: „die Wähler müssen versammelt
werden“, den dieser Artikel gebraucht, ist kein glücklicher. Er stammt aus dem
Art. 51 der preuß. Verfassungsurkunde. Nach dem preuß. Wahlverfahren werden
allerdings die Wähler in den einzelnen Urwahlbezirken versammelt, nach dem Reichs-
wahlgesetz bringt jeder einzeln seinen Stimmzettel zur Wahlurne.
7) Wahlgesetz 8 14. Eine einmalige Ausnahme fand bei den ersten Reichstags-
wahlen in Elsaß-Lothringen statt. Denn da die Reichsverfassung und das Wahlgesetz
dort erst am 1. Januar 1874 in Kraft traten, so mußte mindestens noch die im $ 8
des Wahlgesetzes vorgeschriebene Frist von 4 Wochen abgewartet werden. Während