Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

8 35. Bedingungen der Tätigkeit des Reichstages. 341 
oder wegen unehrenhaften Verhaltens ein Mitglied auszuschließen!) 
Dagegen kann man die Frage erheben, ob nicht ein Mitglied des 
Reichstages, welches die Wählbarkeit einbüßt, dadurch von selbst 
Sitz und Stimme im Reichstage verliert. Die Beantwortung der Frage 
kann zweifelhaft sein, weil die Bedingungen, um Mitglied des Reichstages 
zu werden, nicht dieselben zu sein brauchen, wie die Bedingungen, 
um es zu bleiben. 
Allein aus der Natur der Sache darf man wohl unbedenklich die 
Bejahung der Frage herleiten?). Es ergibt sich dies zunächst für den 
Fall, daß ein Reichstagsmitglied auswandert und mithin aufhört, An- 
gehöriger des Deutschen Reiches zu sein. Wer nicht zum deutschen 
Volke gehört, kann auch nicht » Vertreter« desselben sein. Wenn man 
aber anerkennt, daß der Wegfalleiner Voraussetzung der Wählbarkeit, 
nämlich der Verlust der Reichsangehörigkeit, den Verlust der Reichs- 
tagsmitgliedschaft nach sich zieht, so muß man konsequenter Weise 
dieselbe Wirkung auch dann annehmen, wenn einer der vier im 
Wahlgesetz $ 3 erwähnten Fälle eintritt, durch welche Wahlrecht und 
Wählbarkeit zeitweise ausgeschlossen werden. Ausdrücklich durch 
Gesetz entschieden ist dies für den Fall, daß einem Reichstagsmitgliede 
die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt werden. Denn nach $ 33 
des Reichsstrafgesetzbuchs ist hiermit der dauernde Verlust der aus 
öffentlichen Wahlen für den Verurteilten hervorgegangenen Rechte 
verbunden. Ebenso muß man aber annehmen, daß ein Mitglied des 
Reichstages Sitz und Stimme in demselben verliert, wenn über sein 
Vermögen der Konkurs eröffnet wird?) oder wenn er eine Ärmen- 
unterstützung aus Öffentlichen oder Gemeindemitteln bezieht. 
Die Entscheidung im einzelnen Falle würde, da es sich auch hier 
um die Legitimation der Mitglieder handelt, dem Reichstage selbst 
zustehen. 
8 35. Bedingungen der Tätigkeit des Reichstages. 
1. Der Reichstag darf sich nicht versammeln und seine Tätig- 
keit beginnen, ohne vom Kaiser berufen und ohne vom Kaiser 
1) Vgl. über diese Frage die Stenogr. Berichte 1868, S. 296, 454 ff.; Thudichum 
S. 197, 198. Damit ist nicht zu verwechseln die Befugnis des Präsidenten, ein Mit- 
glied des Reichstags im Falle gröblicher Verletzung der Ordnung von der Sitzung 
auszuschließen. Diese Befugnis hat der Präsident nach $ 60 der Geschäftsordnung 
in der vom Reichstag am 16. Februar 1895 beschlossenen Fassung. Vgl. Stenogr. 
Berichte des Reichstags 1894/95, S. 137, 931ff. Ed. Hubrich, Die parlamentar. 
Redefreiheit und Disziplin, Berlin 1899, S. 244 ff. 
2) Dafür erklären sich auch v. Pözl 8.126; v. Rönnel, S.250; Schwarze, 
Kommentar zum Strafgesetzbuch S. 104; Zorn], S. 220; G. Meyer 8130, Note 6; 
SeydelS. 397. 
3) Lesse, Deutsche Juristenzeitung 1900, S. 134fg.; Anschütz das. S. 181; 
Bauke in Hirths Annalen 1901, S. 401ff. Vgl. jedoch den Kommissionsbericht des 
Reichstags 1898/1900, Drucksachen Nr. 543 und Guttmann in der Deutschen Ju- 
ristenzeitung 1900, S. 401g.
	        
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