342 $ 35. Bedingungen der Tätigkeit des Reichstages.
persönlich oder durch einen von ihm dazu beauftragten Stellvertreter
eröffnet zu sein. Reichsverfassung Art. 12.
Nach dem Art. 13 der Reichsverfassung »findet die Berufung des
Reichstages alljährlich statt«; es muß also der Reichstag in jedem Jahre
mindestens einmal einberufen werden. Die Befugnis des Kaisers, den
Reichstag mehrmals in einem Jahre einzuberufen, ist in der Verfassung
zwar nicht ausdrücklich anerkannt, abgesehen von dem Falle einer
Auflösung des Reichstages (Reichsverfassung Art. 25); sie beruht aber
auf einem allgemeinen, unzweifelhaften Gewohnheitsrecht und ist
unbestritten!),., Man unterscheidet demnach beim Reichstage wie beim
Bundesrate ordentliche und außerordentliche Sitzungsperioden.
2. Der Reichstag darf nicht gegen den Willen des Kaisers ver-
sammelt bleiben und seine Tätigkeit fortsetzen. Dem Kaiser
steht es vielmehr zu, den Reichstag zu vertagen und zu schließen.
Reichsverfassung Art. 12. Dieses Recht ist jedoch insoweit eingeschränkt,
daß ohne Zustimmung des Reichstages die Vertagung desselben die
Frist von dreißig Tagen nicht übersteigen und während derselben
Session nicht wiederholt werden darf. Reichsverfassung Art. 26.
Ueber den rechtlichen Unterschied der Vertagung und Schließung
enthält die Reichsverfassung zwar nichts; nach dem feststehenden
parlamentarischen Sprachgebrauch und der konstitutionellen Praxis
besteht derselbe aber darin, daß die Vertagung die Kontinuität der
Reichstagsgeschäfte nicht unterbricht, wohl aber die Schließung?). Im
Falle einer Vertagung bedarf es daher keiner wiederholten Einberufung
und Eröffnung‘), keiner neuen Konstituierung des Reichstages, keiner
neuen Einbringung der unerledigt gebliebenen Vorlagen und Anträge. Die
Geschäfte werden vielmehr während der Vertagungsfrist nur suspendiert,
bei dem Wiederzusammentritt des Reichstages daher an dem Punkte
aufgenommen und fortgesetzt, an welchem sie liegen geblieben sind.
Im Falle der Schließung tritt dagegen das Prinzip der Diskontinuität
ein; die neue Sitzung ist keine Fortsetzung der vorhergehenden; alle
in der letzteren nicht zum Abschluß gekommenen Reichstagsgeschäfte
müssen von Anfang an wieder begonnen werden. Daher können auch
Reichstagskommissionen nach Schluß der Sitzungsperiode ihre vorbe-
ratende Tätigkeit nicht fortsetzen. Obwohl dieser Satz reichsgesetzlich
nicht direkt ausgesprochen ist, so steht er doch in so unbezweifelter
Geltung‘), daß eine Abweichung von demselben nur auf Grund eines
1) Im Jahre 1870 wurde der Reichstag dreimal einberufen durch Verordnung
vom 6. Februar, 15. Juli und 12. November; im Jahre 1871 zweimal durch Verordnung
vom 26. Februar und 5. Oktober; im Jahre 1874 ebenfalls zweimal durch Verordnung
vom 20. Januar und vom 20. Oktober.
2) Vgl. darüber v. Rönne, Preuß. Staatsrecht, 3. Aufl., 8 122 (I, 2, S. 406 ff.).
And. Ans. Zorn in der 5. Aufl. 1, S. 349.
3) Aus diesem Grunde muß die Vertagung stets auf bestimmte Zeit erfolgen.
4) Die Geschäftsordnung $ 70 scheint ihn bestätigen zu wollen, indem sie be-
stimmt, daß Gesetzesvorlagen, Anträge und Petitionen mit dem Ablaufe der Sitzungs-