8 35. Bedingungen der Tätigkeit des Reichstages. 343
besonderen Reichsgesetzes zulässig erscheint. Eine solche Ausnahme
ist durch das Gesetz vom 23. Dezember 1874 (Reichsgesetzbl. S. 194,
195) gemacht worden!), Die vom Reichstage zur Vorberatung der
Entwürfe eines Gerichtsverfassungsgesetzes, einer Strafprozeßordnung
und einer Zivilprozeßordnung eingesetzte Kommission wurde ermächtigt,
ihre Verhandlungen nach dem Schlusse der Session des Reichs-
tages bis zum Beginn der nächsten ordentlichen Session desselben
fortzusetzen, und im $ 4 desselben Gesetzes wurde bestimmt, daß der
Reichstag in einer der folgenden Sessionen der gegenwärtigen Legis-
laturperiode in die weitere Beratung der genannten Gesetzentwürfe
eintritt. Es sind also hier in Bezug auf die geschäftliche Behandlung
dieser Vorlagen ausnahmsweise die mit der Schließung des Reichstages
verbundenen Wirkungen auf das Maß zurückgeführt worden, welches
sonst denen der Vertagung des Reichstages zukommt?).
3. Der Reichstag darf ohne Genehmigung des Kaisers sich nicht
trennen oder seine Tätigkeit unterbrechen. Das Recht der
Vertagung und Schließung steht ausschließlich dem Kaiser zu. Nur
im nicht technischen Sinne im Anschluß an die in England übliche
Bezeichnung adjournment wird der Ausdruck »Vertagung« auch ange-
wendet, wenn der Reichstag eine einzelne Sitzung vor völliger Erledi-
gung der Tagesordnung abbricht oder die nächste Sitzung um einige
Tage hinausschiebt °).
4. Der Reichstag kann vor Ablauf der Legislaturperiode aufgelöst
werden. Die Auflösung erfolgt durch eine kaiserliche Verordnung,
welche nur auf Grund eines vom Bundesrate unter Zustimmung des
Kaisers gefaßten Beschlusses erlassen werden kann‘). Wird der Reichstag
periode, in welcher sie eingebracht und noch nicht zur Beschlußnahme gediehen sind,
für erledigt (!?) zu erachten sind. Auch das Erk. des Reichsgerichts vom
25. Febr. 1902 (Entsch. in Strafsachen Bd. 22 S. 379 ff.) erkennt das Prinzip der Dis-
kontinuität im Falle der Schließung an.
1) Ebenso durch die Reichsgesetze vom 1. und 20. Februar 1876 (Reichsgesetzbl.
S. 15 u. 23), v. 20. Juni 1902 (Reichsgesetzbl. S. 235 Zolltarifkommission).
2) Ob Kommissionen während einer Vertagung Sitzungen halten dürfen, ist
in Zweifel gezogen worden. Vgl. die Erörterungen des Reichstages hierüber in der
Sitzung vom 16. Juni 1882 (Stenogr. Berichte S. 5llfg.), an welche sich eine lebhafte
Polemik in der Tagespresse anknüpfte. Die Verfassung steht nicht entgegen; die
Frage ist lediglich durch die Geschäftsordnung zu erledigen. Dies ist bis jetzt nicht
geschehen. Aus dem oben entwickelten Begriff der Vertagung ergibt sich die
Zulässigkeit solcher Sitzungen. Dies ist auch vom Reichstag anerkannt
worden durch Beschluß vom 28. Juni 1890. Stenogr. Berichte S. 654 ff. Uebereinstim-
mend Arndt, Staatsr. S.133; Perels, Auton. Reichstagsr. S. 105, Note 585. Vgl.
auch Seydel, Kommentar S. 206; A. M. MeyerS 131, Note 6. Die Behauptung
desselben, daß die hier vertretene Ansicht auf einer Gleichstellung der Vertagung
durch den Kaiser mit der bloßen Hinausschiebung der Sitzungen durch Beschluß des
Reichstages beruhe, ist nicht zutreffend.
3) Geschäftsordnung 8 37. „Der Präsident eröffnet und schließt die Sitzung; er
verkündet Tag und Stunde der nächsten Sitzung.“
4) Reichsverfassung Art. 24. Vgl. die Eingangsformel zur Verordnung v. 29. No-
vember 1873 (Reichsgesetzbl. S. 371).