8 36. Formelle Ordnung der Reichstagsgeschäfte. 345
um eine statutarische Regelung der internen Angelegenheiten dieses
Organes.
Es folgt ferner daraus, daß die Geschäftsordnung immer nur für
denjenigen Reichstag bindend ist, der sie sich gegeben hat, und nur
so lange, als sie der Majorität desselben behagt. Die Einführung,
Abänderung und Ergänzung der Geschäftsordnung ist aber an die
allgemeinen Bedingungen geknüpft, welche der Art. 28 der Reichsver-
fassung für alle Beschlüsse des Reichstags aufstellt. Hat der Reichstag
also einmal eine Geschäftsordnung angenommen, so ist sie für ihn als
Gesamtheit und für jedes einzelne Mitglied so lange bindend, bis ein
ordnungsmäßig gefaßter Beschluß sie abändert. Da die vom Reichstage
des Norddeutschen Bundes angenommene Geschäftsordnung vom
12. Juni 1868 sich als zweckmäßig erwiesen hat, so ist sie von den
folgenden Reichstagen immer wieder angenommen worden, hat aber
im Laufe der Zeit in vielen Punkten Abänderungen und Ergänzungen
erhalten. Ein diese Abänderungen enthaltender Abdruck ist vom
Reichstagsbureau 1898 veranstaltet worden!). Man darf annehmen, da
die parlamentarische Praxis ebensowenig wie die gerichtliche und
Verwaltungspraxis geneigt ist, hergebrachte und als brauchbar bewährte
Uebungen ohne dringenden Grund zu verlassen und zu verändern,
daß mindestens die Grundlinien der jetzigen Geschäftsordnung eine
dauerndere Bedeutung für das Recht des Reiches haben, als ihnen
theoretisch nach der Art des Zustandekommens der Geschäftsordnung
zugeschrieben werden kann’).
Im einzelnen gilt über die Geschäftsformen des Reichstages folgendes :
1. Die Verhandlungen des Reichstages sind öffent-
lich. Reichsverfassung Art. 22, Abs. 1. Die Oeffentlichkeit und die
durch dieselbe vermittelte, fortwährende Wechselwirkung zwischen
dem Reichstage und der öffentlichen Meinung gehört zum Wesen aller
parlamentarischen Tätigkeit. Die Oeffentlichkeit der Verhandlungen
des Reichstages ist aber wieder doppelter Art:
a) Dem Publikum ist gestattet, bei den Sitzungen des Reichstages
zugegen zu sein. Die Handhabung der Polizei im Sitzungsgebäude
und in den Zuhörerräumen steht dem Präsidenten zu; er kann Per-
sonen, welche von der Tribüne Zeichen des Beifalls oder Mißfallens
geben oder sonst die Ordnung oder den Anstand verletzen, entfernen
1) In dieser Fassung ist die Geschäftsordnung abgedruckt und mit wertvollen
Erläuterungen versehen in der Schrift von Perels, Auton. Reichstagsrecht. Berlin
1903. Inzwischen sind noch andere Aenderungen beschlossen oder beantragt worden.
Vgl. meine Erörterung in der D. Juristenzeitung 1903, S. 5 ff.
2) Es ist nicht erforderlich, daß ein neu zusammentretender Reichstag die bisher
beobachtete Geschäftsordnung durch einen ausdrücklichen Beschluß für sich annimmt;
er kann diesen Willen auch dadurch bekunden, daß er sie tatsächlich beobachtet,
ohne daß sich Widerspruch dagegen erhebt. Dies entspricht auch der jetzt befolgten
Praxis des Reichstags.