Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

8 36. Formelle Ordnung der Reichstagsgeschäfte. 347 
Fassung des Art. 22, Abs. 2, welcher von Berichten über Verhand- 
lungen »in den öffentlichen Sitzungen« des Reichstages spricht, läßt 
sich nicht das argumentum e contrario herleiten, daß es auch »nicht 
öffentliche Sitzungen des Reichstages« gebe. Denn teils bilden den 
Gegensatz zu den »öffentlichen Sitzungen des Reichstages« die »nicht 
öffentlichen Sitzungen der Reichstagskommissionen und Abteilungen !), 
teils ist die Fassung des Abs. 2 dem preußischen Preßgesetz vom 
12. Mai 1851, $ 38 entnommen, und es ist bereits hervorgehoben wor- 
den, daß in Preußen allerdings auch nicht öffentliche Sitzungen der 
beiden Häuser des Landtages zulässig sind. Abs. 1 und Abs. 2 des 
Art. 22 würden mit einander in direktem Widerspruch stehen, wenn 
Abs. 2 auch nicht öffentliche Sitzungen des Reichstages als zulässig 
voraussetzen würde. Dadurch, daß die Oeffentlichkeit der Reichstags- 
verhandlungen zu einem unbedingten und uneingeschränkten verfas- 
sungsmäßigen Rechtssatz gemacht worden ist, ist der Ausschluß der 
Oeffentlichkeit der Regelung durch die Geschäftsordnung entzogen’). 
Verfassungssätze sind auch für den Reichstag bindend °). 
2. Ueber deBeschlußfassung des Reichstages enthält Art. 28 
der Reichsverfassung zwei Rechtssätze: 
a) »Der Reichstag beschließt nach absoluter Stimmenmehrheit.« 
Note 5; Arndt zu Art. 22 Note 2; Hubrich.a.a. O. S. 47, Note 4; Folkerts, 
Die Verfassungswidrigkeit des $ 36 der Geschäftsordnung, München 189; Müller- 
Meiningen in Hirths Annalen 1900, S. 567 und namentlich Perels im Arch. für öff. 
R. Bd. 15, S. 548 ff. und Auton. Reichstagsr. S.33 ff.; Hiersemenzel geht nicht 
weit genug, wenn er aus dem Art. 22 nur folgert, daß ein in geheimer Schluß- 
beratung gefaßter Plenarbeschluß des Reichstags ungültig sein würde. Denn 
Art. 22 schreibt die Oeffentlichkeit nicht bloß für die Beschlußfassung, sondern all- 
gemein für die Verhandlungen des Reichstages vor. Eine unter Ausschluß der 
Oeffentlichkeit abgehaltene Besprechung ist nur eine Verhandlung von Reichstags- 
mitgliedern, aber keine Verhandlung des Reichstags im Sinne der Verfassung. Die 
entgegengesetzte Ansicht vertreten ThudichumS.192; RiedelS.112;v.Rönnel, 
S. 282; v. PözlS. 132; G. Meyer $ 132, Note 24; Schulze, Deutsches Staats- 
recht II, S. 85. Auf die nach Art. 27 dem Reichstage zustehende Autonomie kann 
der $ 36 der Geschäftsordnung nicht gestützt werden, weil autonomische Festsetzun- 
gen Verfassungssätze nicht aufheben können. 
1) Vgl. auch v. Mohl, Zeitschrift für Staaatswissenschaft Bd. 31, S. 61. Selbst 
wenn man diesen Gegensatz zu den „öffentlichen Sitzungen“ nicht annimmt, ist der 
Schluß, daß durch das Wort „öffentliche“ auch nichtöffentliche Plenarsitzungen des 
Reichstages von der Verfassung stillschweigend zugelassen seien (Meyer.a.a. O.), 
ein willkürlicher und der ausdrücklichen Bestimmung in Abs. 1 desselben Ar- 
tikels gegenüber unzulässiger. Abs. 2 des Art. 22 spricht von öffentlichen Sitzungen 
des Reichstags, weil es nichtöffentliche nicht gibt; dagegen hat $ 12 des Strafgesetz- 
buches das Wort „öffentliche“ weggelassen, weil er auch auf die Verhandlungen der 
Landtage sich erstreckt. Richtig Olshausena.. a. O. 
2) Vgl. Fleischmann in der Deutschen Juristenzeitung 1900, S. 157; Müller 
a.a. O. S. 570 ff.; Perels S. 34. 
3) Dessenungeachtet hat der Reichstag bei den Verhandlungen über die berüch- 
tigte „Lex Heinze“ in der Sitzung vom 17. März 1900 ohne Erörterung der rechtlichen 
Zulässigkeit die Oeffentlichkeit ausgeschlossen.
	        
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