Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

8 37. Schutz der Reichstagsmitglieder. 355 
& 37. Schutz der Reichstagsmitglieder. 
Den Mitgliedern des Reichstages die freie und unabhängige Aus- 
übung derihnen obliegenden Funktionen zu sichern, ist der gemeinsame 
Zweck einer Reihe von Rechtsvorschriften. In der Literatur faßt man 
dieselben gewöhnlich unter dem Gesichtspunkte auf, daß es sich hierbei 
um persönliche Rechte der Reichstagsmitglieder 
handle')?). Dies ist indes unrichtig. Alle diese Vorschriften begründen 
keine subjektiven Berechtigungen; sie sind vielmehr ihrem Inhalte 
nach Rechtssätze des Strafrechts und des Prozesses, welche auf politi- 
schen und staatsrechtlichen Motiven beruhen. Es sind 
objektive Spezialrechtssätze, nicht durch Privileg begründete subjektive 
Rechte, welche bestimmten Individuen zustehen. Die Mitgliedschaft 
im Reichstage ist zwar die Voraussetzung für die Anwendung dieser 
Rechtsvorschriften, aber die Anwendung derselben hängt nicht von 
dem Willen des Mitgliedes ab°). Es ist dies für die allgemeine theo- 
retische Auffassung dieser Rechtssätze von Bedeutung. Die Grundsätze 
vom Erwerb und Verlust der subjektiven Rechte finden keine An- 
wendung; kein Reichstagsmitglied kann wirksam darauf verzichten 
oder sie abtreten; es gibt keine Klage zu ihrer Geltendmachung u. s. w. 
Dagegen unterliegen sie den Regeln von den objektiven Rechtssätzen; 
insbesondere können sie durch ein verfassungsmäßig zustande ge- 
kommenes Gesetz jederzeit verändert oder aufgehoben werden, ohne 
1) Vgl. z. B.v. Pöz1lS. 129; v. Rönne ], S. 270; Westerkamp S. 109; 
G. MeyerS$ 105; Schulze, Deutsches Staatsrecht I, 8 180; Gierke in Holtzen- 
dorffs Jahrb. Bd. 7, S. 11388. Vgl. ferner Zöpfl Il, 8386fg. E. Sontag, Der be- 
sondere Schutz der Mitglieder des deutschen Reichstags, Breslau 1895, S. 20 fg. Rich- 
tig Seydel, Annalen S. 352 und Kommentar S. 213. Vgl.auchBornhak, Preuß. 
Staatsrecht I, S. 396. Jellinek, System S. 169 fg. geht zwar davon aus, daß die 
sogenannte Immunität der Abgeordneten objektives Recht sei, schreibt aber den 
einzelnen Abgeordneten einen individualrechtlichen „Anspruch auf Anerkennung der 
Erweiterung ihres negativen Status“ zu. Vgl. über diese Konstruktionsmethode oben 
S. 331, Anm. 1. 
2) Die Reichsgesetzgebung enthält keine Vorschriften, durch welche die Erfül- 
lung der den Reichstagsmitgliedern obliegenden Pflicht zur Teilnahme an den 
Geschäften des Reichstags gesichert wird. Man ging von der Annahme aus, daß 
solche Rechts vorschriften entbehrlich seien und daß das sittliche Pflichtgefühl 
der gewählten Abgeordneten genüge, um sie zur Wahrnehmung der von ihnen über- 
nommenen Funktionen zu bestimmen. Dies war in früheren Zeiten wohl auch zu- 
treffend. Gegenwärtig sind in den Sitzungen des Reichstages, wenn es sich nicht 
um Parteiinteressen handelt, regelmäßig nur wenige Mitglieder anwesend und fassen 
über die wichtigsten Angelegenheiten Beschlüsse. Die Abwesenden setzen sich über 
die von ihnen übernommene Pflicht, die Anwesenden über die Vorschrift des Art. 22 
der Reichsverfassung hinweg. 
3) Man könnte mit demselben Grunde aus jeder Vorschrift der Prozeßordnungen 
und des Strafrechts subjektive Rechte für alle diejenigen herleiten, welche einmal 
in die Lage kommen, daß diese Vorschrift zu ihren Gunsten Anwendung findet. Es 
verhält sich hier ebenso wie mit dem Wahlrecht.
	        
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