8 37. Schutz der Reichstagsmitglieder. 357
Reichstagsmitglied gerichtlich oder disziplinarisch oder »sonst« zur
Verantwortung zu ziehen, so ist dies nur von einem obrigkeit-
lichen Ziehen zur Verantwortung zu verstehen, weil nur dieses einen
rechtlichen Charakter hat').
Auf die Zeugnispflicht bezieht sich Art. 30 der Reichsver-
fassung nicht; die Reichstagsabgeordneten sind von ihr auch in betreff
der in Ausübung ihres Berufes getanen Aeußerungen nicht befreit?).
2. »Ohne Genehmigung des Reichstages kann kein Mitglied desselben
während der Sitzungsperiode wegen einer mit Strafe bedrohten Hand-
lung zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden, außer wenn
es bei Ausübung der Tat oder im Laufe des nächstfolgenden Tages
ergriffen wird.« Reichsverfassung Art. 31, Abs. 1.
Dies ist eine Regel des Strafprozesses. Die Genehmigung des
Reichstages ist eine strafprozessualische Voraussetzung oder Bedingung,
ohne welche die Behörden eine strafgerichtliche Untersuchung nicht
eröffnen, resp. die Verhaftung nicht vornehmen dürfen°). Diese Be-
dingung besteht nur »während der Sitzungsperiode«, d. h. vom Momente
der Eröffnung bis zum Momente der Schließung des Reichstages.
selben aber abgelehnt worden. Derselbe gab Anlaß zu einer sehr eingehenden De-
batte über die parlamentarische Redefreiheit. Stenogr. Ber. 1879, S. 247—320.
1) Im Gegensatz dazu steht eine politische Verantwortung, welche von dem
Reichstagsmitgliede von Fraktionen, Wahlkomitees, Wählerversammlungen, politischen
Vereinen, Organen der Presse u. s. w. etwa gefordert wird. Eine solche Forderung
kann rechtlich nicht erzwungen werden, ist rechtlich aber auch nicht untersagt. Siehe
oben S. 298. Sehr bestritten ist die Frage, ob durch Art. 30 die Erhebung einer
Zivilklage auf Leistung von Schadensersatz z. B. wegen Preisgabe eines Fabrikge-
heimnisses, Schädigung des Kredits u. s. w. ausgeschlossen ist, wenn die zivilrechtl.
Voraussetzungen eines Anspruchs gegeben sind. Für die Ausdehnung des Privilegs
auch auf zivilrechtl. Ansprüche erklären sich Hubrich S. 370 (daselbst Note 62
zahlreiche Literaturangaben) und v.Muralt S. 9; dagegen mit Recht Wittmaak
Archiv für öff. R. Bd. 21, S. 359 ff., weil die Erhebung einer Zivilklage keine „ge-
richtliche Verfolgung“ ist.
2) Vgl. O. Lewald, Gerichtssaal Bd. 39, S. 54 ff.; Altsmann im Archiv für
öff. Recht I, S. 589 ff.; G. Meyer 8 105 und die daselbst Note 17 zitierten Schrift-
steller; Seydel, Kommentar S. 212; Schwedler a.a. O. S.33; Hubrich
S. 371 f.; Wittmaaka a O.S.353ff. Anderer Ansicht sind namentlich Fuld,
Annalen 1888, S. 6 fg. und Archiv für öffent. Recht Bd. 4, S. 345 ff. und Müller-
Meiningen iin Hirths Annalen 1906, S. 641 ff. Vgl. auch die Verhandlungen des
Reichstages vom 10. März 1886. Stenogr. Berichte II, S. 1399 ff. Vgl. auch über
das übereinstimmende österreich. Recht Lahner in Grünhuts Zeitschrift Bd. 27,
S. 183 (1899). Die neue Strafprozeßordnung wird aber voraussichtlich die Mitglieder
der Volksvertretungen von der Zeugnispflicht in Strafsachen hinsichtlich der in Aus-
übung ihres Berufs von ihnen behaupteten Tatsachen befreien, ungeachtet der großen
Gefährdung der Disziplin und Diensttreue der Beamten, welche dieses Privilegium
zur Folge haben würde.
3) Dasselbe gilt von der im $ 197 des Reichsstrafgesetzbuches geforderten „Er-
mächtigung“, welche der Reichstag, wenn eine Beleidigung gegen ihn begangen wor-
den ist, zur strafrechtlichen Verfolgung derselben zu erteilen hat. Vgl. A. Haus.
mann, Die Beleidigung gesetzgebender Versammlungen und politischer Körper-
schaften, München 1892.