8 37. Schutz der Reichstagsmitglieder. 359
die Strafvollstreckung sich nicht erstreckt; auch ist niemals in Preußen in
der staatsrechtlichen Praxis die entgegengesetzte Behauptung auch nur
erhoben worden !).
Bei der Vereinbarung der Reichsverfassung wurde daher von
keiner Seite daran gedacht, den Reichstagsmitgliedern ein Privilegium
in Beziehung auf die Verbüßung rechtskräftig erkannter Strafen zu
erteilen).
3. »Die gleiche Genehmigung ist bei einer Verhaftung eines Reichs-
tagsmitgliedes wegen Schulden erforderlich.x« Reichsverfassung Art. 31,
Abs. 2. Dieser Satz enthält eine Regel des Zivilprozesses und ist dem-
gemäß auch in der Zivilprozeßordnung 8 904, Ziff. 1 hinsichtlich der
Mitglieder aller deutschen gesetzgebenden Versammlungen anerkannt.
4. »Auf Verlangen des Reichstages wird jedes Strafverfahren gegen
ein Mitglied desselben und jede Untersuchungs- oder Zivilhaft für die
Dauer der Sitzungsperiode aufgehoben.« Reichsverfassung Art. 31,
Abs. 3. Auch dies ist eine Regel des Prozeßrechts. Durch diese Vor-
schrift wird dem Reichstage die Befugnis gegeben, die Unterbrechung
eines Strafverfahrens, sowie einer Untersuchungs- oder Zivilhaft zu
verlangen. In der Zivilprozeßordnung $ 905, Ziff. 1 kehrt die Regel
in Ausdehnung auf die Mitglieder aller deutschen gesetzgebenden Ver-
sammlungen wieder. Auf eine Strafvollstreckung kann der Artikel
nicht bezogen werden, weil dieselbe erst nach Beendigung des
Strafverfahrens eintritt, nicht mehr zum Strafverfahren selbst gehört
und weil die ausdrückliche Hervorhebung »jeder Untersuchungs- oder
Zivilhaft« es unzweifelhaft macht, daß die »Strafhaft« dieser Regel nicht
mit unterworfen werden sollte®.. Die Unterbrechung des Strafver-
1) Vgl. v. Rönne, Preußisches Staatsrecht I, 2, S. 436—439 und den trefflichen
Bericht des Abgeordneten Harnier in der Sitzung des Reichstages vom 16. Dezem-
ber 1874. Stenogr. Berichte S. 725 ff.
2) Auch das Berliner Kammergericht hat durch Beschluß vom 18. November 1874
die richtige Ansicht zur Geltung gebracht, als es sich um die Vollstreckung einer
rechtskräftig erkannten Gefängnisstrafe gegen ein Reichstagsmitglied Namens Ma-
junke handelte. In der dieserhalb geführten Verhandlung des Reichstages ist außer
der angeführten Berichterstattung von Harnier namentlich die vorzügliche Aus-
einandersetzung von Gneist (Stenogr. Berichte S. 750 ff.) zu beachten. Auch der
Reichstag selbst erkannte die richtige Ansicht dadurch direkt an, daß er unter Ab-
lehnung aller anderen Anträge eine Resolution annahm, nach welcher „behufs Auf-
rechterhaltung der Würde des Reichstages“ es notwendig sei, im Wege der Dekla-
ration, resp. Abänderung der Verfassung die Möglichkeit auszuschließen, daß ein Ab-
geordneter während der Dauer der Sitzungsperiode ohne Genehmigung des Reichs-
tages verhaftet werde. Der Bundesrat beschloß, dieser Resolution eine Folge nicht
zu geben. Reichsanzeiger vom 8. November 1875. Ein in der Sitzungsperiode von
1875/76 eingebrachter Antrag auf Abänderung des Art. 31 der Reichsverfassung wurde
vom Reichstage am 9. Dezember 1875 verworfen. Stenogr. Ber. S. 471 ff. Auch in
der Literatur ist die richtige Ansicht allgemein zur Anerkennung gelangt. Vgl. die
Zitate bei G. Meyer $ 133, Note 18.
3) Dies ist auch durch eine konstante Praxis des Reichstages anerkannt, welche
z. B. in den Sitzungen vom 12. März 1874 (Stenogr. Ber. S. 305 ff.) und vom 21. No-