Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

8 38. Die Diäten der Reichstagsabgeordneten. 361 
Das Gesetz, welches diese Entschädigung festsetzt, ist am gleichen 
Tage erlassen und im RGBl. S. 468 verkündet worden; es ist kein 
Verfassungsgesetz, unterliegt also der Abänderung ohne Beobachtung 
der Vorschrift des Art. 78, Abs. 1. 
Die Verfassungsvorschrift hat einen doppelten Inhalt; sie enthält 
ein Verbot und eine Gewährung. 
I. Das Verbot. 
1. Den Mitgliedern des Reichstags ist verboten, als solche eine Be- 
soldung zu beziehen. Dieses Verbot unterscheidet sich nicht von dem 
in der ursprünglichen Fassung des Artikels enthaltenen. Der Ausdruck 
»Besoldung« kann selbstverständlich nicht in dem Sinne des Beamten- 
rechts verstanden werden; denn die Reichstagsmitglieder sind keine 
Beamte und stehen zu niemandem in einem Dienstverhältnis. Unter 
Besoldung ist vielmehr jede Vermögenszuwendung zu verstehen, wel- 
che jemandem dafür gewährt wird, daß er Mitglied des Reichstags ist, 
ohne Unterschied, ob diese Zuwendung in periodisch sich erneuernden 
Zahlungen oder in einer einmaligen Dotation besteht und ob sie in 
Geld oder in anderen Wertobjekten gewährt wird. Das Verbot um- 
faßt alle Vermögenszuwendungen mit Ausnahme der reichsgesetzlich 
gewährten »Entschädigung«; der Reichstagsabgeordnete soll »als sol- 
cher« nichts erhalten als was das Reichsgesetz ihm zubilligt. 
2. Dieses Verbot ist aber eine lex imperfecta. Es droht Rechts- 
nachteile weder dem Reichstagsmitglied an, welches es verletzt, noch 
demjenigen, welcher dem Reichstagsmitglied eine Besoldung gewährt. 
Weder ist der Verlust der Reichstagsmitgliedschaft oder eine andere 
staatsrechtliche Folge an die Verletzung des Art. 32 geknüpft, noch hat 
das Strafgesetzbuch aus dieser Verletzung den Tatbestand einer straf- 
baren Handlung gemacht. Wenn daher Mitglieder einer politischen 
Partei, ein Verein, eine einzelne Person u. s. w. einem Mitgliede des 
Reichstages in der juristischen Form einer Schenkung oder irgend 
eines anderen Rechtsgeschäfts eine Vermögenszuwendung als Entgelt 
für die Tätigkeit desselben im Reichstage machen und das Reichstags- 
mitglied diese Vermögenszuwendung annimmt, so knüpfen sich an 
diesen Vorgang weitere Rechtsfolgen nicht an, als die im Zivilrecht 
begründeten !). 
Dessenungeachtet ist die Vorschrift des Art. 32 keine wirkungslose. 
Aus ihr ergeben sich vielmehr folgende Rechtssätze: 
a) Ein zivilrechtlicher Vertrag, durch welchen einem Reichstags- 
mitgliede eine Besoldung oder Entschädigung für seine Tätigkeit im 
Reichstage versprochen oder zugesichert wird, ist rechtsun- 
1) Sehr treffend sagtein dieser Beziehung Fürst Bismarck im verfassunggeb. 
Reichstage (Stenogr. Berichte S. 727), „daß die Regierungen ohne eine strafgesetz- 
liche Unterlage nur denen etwas verbieten können, denen sie überhaupt zu befehlen 
haben“. Nur hinsichtlich der Beamten ist diese Erklärung, wie Hiersemenzell, 
S. 102 sagt, „nicht eindeutig“. 
 
	        
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