8 40. Der Reichskanzler. 383
verwaltungsbereiches hat der Reichskanzler nicht zu vertreten; hier
kommen vielmehr die Grundsätze des Landesstaatsrechts über die Ver-
antwortlichkeit der Minister für ihre Geschäftsführung zur Anwendung ').
IH. Die Stellvertretung des Reichskanzlers.
1. In der Reichsverfassung ist die Vertretung des Reichskanzlers
nur hinsichtlich des Vorsitzes im Bundesrate und der Leitung der
Bundesratsgeschäfte durch Art. 15, Abs. 2 geregelt worden (siehe
oben S. 279 fg.); dagegen nicht hinsichtlich der reichsministeriellen
Geschäfte?). Es beruht dies auf der indem Entwurf der Bundes-
verfassung ursprünglich in Aussicht genommenen Organisation (oben
S. 376 fg... Zwar kann der Reichskanzler auch ohne besondere gesetz-
liche Ermächtigung die Erledigung der ihm obliegenden Geschäfte wie
jeder Chef einer Behörde anderen zu seiner Unterstützung angestellten
Beamten (Staatssekretären, Direktoren, Räten u. s. w.) übertragen;
allein Stellvertreter dieser Art sind zwar dem Reichskanzler für
die instruktionsgemäße, sorgfältige und umsichtige Führung der ihnen
aufgetragenen Geschäfte verantwortlich, dagegen dem Kaiser, Bundesrat
und Reichstag gegenüber bleibt der Reichskanzler verantwortlich in
dem Sinne, in welchem dieses Wort im konstitutionellen Staatsrecht
von den Ministern und im Art. 17 der Reichsverfassung vom Reichs-
kanzler gebraucht wird. Er kann sich dieser Verantwortlichkeit nicht
dadurch entziehen, daß er die Geschäfte von anderen Personen vor-
nehmen läßt, da die Reichsverfassung eben nur einen einzigen
verantwortlichen Verwaltungschef, den Reichskanzler, kennt. Auch
mußte es der bestimmten Anordnung im Art. 17 der Reichsverfassung
gegenüber zum mindesten als sehr zweifelhaft erachtet werden, ob eine
kaiserliche Verordnung oder Verfügung durch einen Stellvertreter des
Reichskanzlers gültig kontrasigniert werden könne, obwohl dies tat-
1) Dieselbe besteht neben der Ueberwachung seitens des Reiches fort, jedoch
mit der selbstverständlichen Modifikation, daß ein Verfahren einer Bundesregierung,
welches vom Reich als im Einklang stehend mit den Reichsgesetzen anerkannt wor-
den ist, von den Organen des Einzelstaates nicht als Verletzung der Reichsgesetze
erklärt werden kann.
2) Es ist die übereinstimmende Ansicht aller Schriftsteller über das deutsche
Staatsrecht — mit alleiniger Ausnahme einer flüchtigen Bemerkung von v. Martitz,
Betrachtungen S. 49 — gewesen, daß Art. 15 der Reichsverfassung sich nur auf den
Bundesrat und die Leitung der Bundesratsgeschäfte bezieht. Im Gegensatz hier-
zu haben Jo&la. a.0.S.402ff., 794 und HenselS.3ff. die Ansicht zu begründen
versucht, daß „Leitung der Geschäfte“ die Leitung der gesamten Reichsgeschäfte
bedeute, also auch die ministeriellen Geschäfte mit umfasse. Diese Meinung, der
auch Fürst Bismarck in der Reichstagssitzung vom 5. März 1878, Stenogr. Berichte
S. 342, Ausdruck gegeben hat, ist als irrig dargetan worden von G. MeyerS$ 155,
Note 5, und besonders von Hänela.a.0. Vgl. ferner Seydel in v. Holtzendorffs
Jahrb. IH (1879), S. 2934; Zorn 1, S. 252; Schulze S$S 270; Preuß S. 433 und das
Urteildes Reichsgerichts; Entscheid. in Strafs. Bd. 7, S. 3837; Reincke,
Kommentar S. 154; Smend S. 323 ff.