384 8 40. Der Reichskanzler.
sächlich wiederholt geschehen ist. Da sich nun das Bedürfnis nach
einer verantwortlichen Stellvertretung des Reichskanzlers unter
Entlastung des letzteren von der Verantwortlichkeit herausstellte, so
wurde durch das Reichsgesetz vom 17. März 1878 (Reichs-
gesetzbl. S. 7) eine solche eingeführt’). Dieses Gesetz betrifft lediglich
die Stellvertretung des Reichskanzlers in seiner Eigenschaft als Reichs-
minister und läßt, wie es im 84 ausdrücklich hervorhebt, die Bestim-
mung des Art. 15 der Reichsverfassung (über die Stellvertretung im
Vorsitz und der Geschäftsleitung des Bundesrates) unberührt.
2. Die Stellvertreter werden vom Kaiser ernannt, nicht — wie
im Falle des Art. 15 — vom Reichskanzler selbst. Die Befugnis des
Kaisers, die Ernennungen vorzunehmen, ist aber doppelt beschränkt; sie
kann nur ausgeübt werden in »Fällen der Behinderung« des Reichs-
kanzlers und ferner nur »auf Antrag« desselben (Gesetz $ 1). Der
Reichskanzler konstatiert daher selbst, ob er behindert ist oder nicht,
und er hat das Recht der Initiative; er kann Stellvertreter verlangen,
aber er braucht sich solche nicht gefallen zu lassen. Unter »Behinde-
rung« ist nach den Motiven und Reichstagsverhandlungen nicht bloß
der Fall zu verstehen, daß der Reichskanzler aus vorübergehen-
den Ursachen an der Wahrnehmung seiner amtlichen Geschäfte
verhindert ist, sondern auch das Vorhandensein von dauernden
Umständen, welche ihm die letztere teilweise unmöglich machen, ins-
besondere zu großer Umfang der Geschäftslast, Mangel der für gewisse
Geschäftszweige erforderlichen technischen Kenntnisse u. s. w. Dadurch
kommt der Stellvertretung selbst der Charakter einer dauernden
Einrichtung im Behördensystem des Reiches zu?).
3. Das Gesetz läßt im $ 2 zwei Arten von verantwortlichen Stell-
vertretern zu:
a) Einen Generalstellvertreter (Vizekanzler) »allgemein
für den gesamten Umfang der Geschäfte und Obliegenheiten des Reichs-
kanzlers«. Die Auswahl desselben ist gesetzlich nicht beschränkt).
b) Ressortstellvertreter für diejenigen einzelnen Amts-
zweige, welche sich in der eigenen und unmittelbaren Verwaltung des
Reiches befinden. Ausgeschlossen sind demnach verantwortliche Stell-
vertreter für diejenigen Amtszweige, welche der Selbstverwaltung der
Einzelstaaten überlassen und nur der Beaufsichtigung des Kaisers
unterstellt sind®). Zu Ressortstellvertretern können nur die Vorstände
1) Vgl. über dasselbe die Verhandlungen des Reichstages, Stenogr. Berichte 1878,
S. 321 ff., 373 ff., 431 ff. und den Entwurf mit Motiven in Nr 34 der Drucksachen. Aus
der Literatur ist besonders hervorzuheben die oben zitierte Abhandlung von Jo&l
S. 761 ff., ferner Smend in Hirths Annalen 1906, S.321 ff. 2) Vgl. JoelS. 764 fg.
3) Es ist nicht erforderlich, daß er der Chef einer obersten Reichsbehörde ist;
es besteht aber die Praxis, immer den Staatssekretär des Reichsamts des Innern zum
Generalstellvertreter zu bestellen.
4) Gute und eingehende Erörterungen darüber gibt Jo&l S. 766 ff., 772ff. Vgl.
ferner Smend a. a. O. S. 331fg.