34 8 2. Die Gründung des Norddeutschen Bundes.
Staat ohne Verfassung vorstellen; beides muß gleichzeitig gegeben sein’).
Der Norddeutsche Bund wurde in das Leben gerufen von Staaten, die
vor ihm da waren und sich zu diesem Zwecke vereinigt hatten: sie
haben ihm seine Verfassung gegeben; er hat gleich bei seiner Geburt
seine Konstitution und Organisation mit auf die Welt gebracht ?). Daraus
folgt, daß die Errichtung der Verfassung nicht als ein Akt der Bundes-
gesetzgebung gedacht werden kann, denn sie ist nicht eine Willens-
betätigung des Bundes, sondern eine freie Willenstat aller bei der Grün-
dung beteiligten Staaten. Sie kann aber andererseits auch nicht
unter den Gesichtspunkt der Landesgesetzgebung gebracht werden,
denn die Einzelstaaten haben diese Verfassung nicht sich selbst,
sondern dem von ihnen errichteten Gemeinwesen gegeben. Die Grün-
dung des Bundes, die Feststellung und Anerkennung seiner Verfassung
1) H. Pohl, Die Entstehung des belg. Staates und des Nordd. Bundes (Tüb.
1905) S. 44 vermißt eine Erklärung, was hier unter einer „Verfassung“ zu verstehen
sei, eine geschriebene Verfassungsurkunde sei doch nicht eine wesentliche Voraus-
setzung für die Existenz eines Staates. Das ist freilich richtig. Unter Verfassung
ist zu verstehen die rechtliche Grundlage des Bestehens und der Ausübung
einer Staatsgewalt, eine Rechtsordnung. Ohne dieselbe verschwindet der Unter-
schied zwischen einem Staat und einer Räuberbande; wenn die reine Tatsache einer
Herrschaft genügen würde um das Bestehen eines Staates anzunehmen, so würde ein
zeitweise erfolgreicher Aufruhr, ein Pronunciamento eines Generals, die Besetzung
eines Gebiets durch einen Feind und dergl. einen „Staat“ schaffen, der so lange
dauert wie diese Herrschaft. Die abstrakte Möglichkeit, daß eine Rechtsord-
nung für eine neu entstehende Staatsgewalt ohne eine schriftliche Verfassungsur-
kunde geschaffen werde, ist zuzugeben; daß dies bei der Errichtung eines Bundes-
staates jemals vorgekommen ist oder vorkommen kann, ist zu bestreiten; bei der Er-
richtung des Nordd. Bundes und des D. Reichs war dies nicht der Fall. Auch Max
Wenzel, Zur Lehre der vertragsmäßigen Elemente der Reichsverf. Tüb. 1909 S. 3 ff.
bestreitet, daß die Akte der Einzelstaaten eine konstitutive Bedeutung für die Grün-
dung des Nordd. Bundes resp. des deutschen Reichs haben konnten; er sieht in ihnen
nur die kundgegebene Legalisierung ihres Untergangs als Staaten (S.6); der Nordd.
Bundesstaat, sowie das Reich, seien dadurch entstanden, daß König Wilhelm 1. sich
als Präsident des Bundesstaats aufwarf und die Staatsgewalt usurpierte. Der Herr-
scherakt Wilhelms I. sowie das Gehorchen der Einzelstaaten können rechtlich nicht
abgeleitet werden, sondern seien Vorgänge von rein tatsächlichem Charakter (S. 11 ff).
Wenn aber diese Vorgänge keine Rechtsakte waren, so konnten sie auch keine
Rechtswirkungen haben; denn die Rechtswirkungen tatsächlicher Vorgänge
werden diesen nur durch das Recht beigelegt und können aus ihnen selbst nicht ab-
geleitet werden. Wenn die Usurpation König Wilhelms und die Unterwerfung der
Einzelstaaten rein tatsächliche Vorgänge gewesen wären, so hätte ihnen auch die
Kraft gefehlt, Rechtswirkungen hervorzubringen und sie müßten durch ein entgegen-
gesetztes tatsächliches Verhalten der Beteiligten aufgehoben werden können. Vgl.
meine Besprechung der Schrift von Wenzelim Arch. f. öff. R. Bd. 26 S. 365 ff.
2) Deshalb ist auch die von Zorn ], S. 33 ff. gemachte Unterscheidung zwischen
der Verfassung im weiteren und engeren Sinne und die Hypothese, daß zuerst die
neue Staatsgewalt faktisch ins Leben getreten sei und sich dann sofort durch Erlaß
der Bundesverfassung konstitutionell beschränkt habe, völlig ungeeignet, zur Lösung
des Problems irgend etwas beizutragen. Zorn hat diese Theorie auch in den An-
nalen 1884, S. 478 ausgeführt und in der 2. Auflage des Staatsrechts festgehalten.