Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

8 48. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. 485 
vergehen und den Disziplinarvergehen eine Grenzlinie aufzustellen; 
beide können die öffentliche Ordnung verletzen, beide können gegen 
die Wohlfahrt und Sicherheit des Staates gerichtet sein, beide können 
mit Vorsatz oder aus Fahrlässigkeit begangen werden; auch die Schwere 
des Vergehens unterscheidet sie nicht, denn es gibt geringfügige Amts- 
vergehen, welche mit öffentlicher Strafe bedroht sind; für den Tatbe- 
stand der Amtsvergehen und für den Tatbestand der Dienstvergehen 
gibt es keinen logischen Gegensatz, der beide Begriffe von einander 
zu scheiden vermag. Die Verfolgung der strafbaren Handlungen ist 
eine Pflicht des Staates, welcher sich die dazu bestellten Behörden 
nicht entziehen dürfen; die Handhabung der Disziplin ist in das Er- 
messen der Behörden gestellt; sie können Nachsicht üben und Pflicht- 
verletzungen hingehen lassen; Disziplinarvergehen können demnach 
keine Unterart der Kriminalvergehen sein. 
Alle diese Schwierigkeiten sind die Folgen des falschen Ausgangs- 
punktes, den man wählt. Trotzdem zwischen dem Kriminalrecht und 
dem Disziplinarrecht äußerlich eine große Aehnlichkeit besteht, indem 
beide durch das Mittel der Strafe verwirklicht werden, darf man 
den Begriff des Disziplinarrechts nicht im Gegensatz und in der Ver- 
gleichung zum Strafrecht, sondern zum Privatrecht suchen. Er fällt 
zusammen mit dem Gegensatz der obligatorischen Vertragsverhältnisse 
und der Gewaltverhältnisse. Der entscheidende Punkt ist der, 
daß die Disziplinarfolgen der Pflichtverletzung nicht auf der öffent- 
lichen Strafgewalt des Staates, sondern auf der Dienstherrlich- 
keit, auf dem Gewaltverhältnis zwischen Staat und Staatsdiener be- 
ruhen; die Disziplinarstrafen sind keine Strafen im Sinne des Straf- 
rechts, sondern Mittel zur Erhaltung der Zucht und Ordnung inner- 
halb des Dienstverhältnisses und zur Sicherung der Erfüllung der 
Dienstpflichten !}). 
In kontraktlichen Verhältnissen hat jeder Teil gegen den anderen 
eine Klage auf Erfüllung oder auf Ersatz des Interesses wegen Nicht- 
1) Diese Grundauffassung wird — abgesehen von nicht sehr erheblichen Abwei- 
chungen in der Charakterisierung des Zwecks der Disziplinarstrafe — geteilt von 
Binding in Grünhuts Zeitschrift II, S. 684; besonders Grundriß des Strafrechts 
(3. Aufl. 1884), S. 84 fg. (daselbst zahlreiche Literaturangaben). Vgl. auch dessen Hand- 
buch des Strafrechts I, S. 796 ff. Ferner v. Liszt in Holtzendorffs Rechtslexikon, 
Art. „Ordnungs- und Disziplinarstrafen“ (3. Aufl. II, S. 968 ff.) und besonders in seinem 
Lehrbuch des deutschen Strafrechts $ 58, II; Hecker, Gerichtssaal Bd. 31, S. 481 ff.; 
Rehm, Annalen 1885, S. 191ff.; Schulze, Deutsches Staatsrecht I, S. 331; Do- 
chow, Zeugniszwang (1877) S. 58; v. Sarwey, Württemb. Staatsrecht II, $ 118; 
insbesondere Gaupp, Württemb. Staatsrecht 8 48 (S. 149 fg.); OttoMayer 2.2.0; 
Pieper S. 222; v. Rheinbaben, Preuß. Disziplinarges., Berlin 1904, S. 57; wohl 
auch Löning, Verwaltungsrecht S. 127 fg., obgleich hier die charakteristischen Un- 
terschiede verwischt und unerhebliche Nebenpunkte betont werden, sowie Labes 
a. a. 0. S. 251fg. Nur darf man nicht wegen des oben hervorgehobenen Zwecks 
der Disziplinarstrafen mir die Meinung imputieren, daß ich ihren Pönalcharakter 
leugne oder verkenne.
	        
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