Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

8 48. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. 491 
4. Auch in Betreff der Strafausmessung kommt in Betracht, 
daß die Disziplinarstrafe nicht die öffentliche Strafe ergänzen oder ver- 
treten, sondern die Erfüllung der Dienstpflicht sichern und deren Ver- 
letzung ahnden soll. Deshalb ist die Strafe mit besonderer Rücksicht 
aufdie gesamte Führung des Angeschuldigten zu ermessen. ($ 76.) 
Denn so wie sich die Erfüllung der Dienstpflicht nicht aus einer Anzahl 
einzelner Handlungen zusammensetzt, sondern das gesamte Leben 
des Beamten umschließt, so ist auch die Handlung, durch welche die 
Dienstpflicht verletzt wird, nicht als vereinzelte Tat, sondern im Zu- 
sammenhang nıit dem allgemeinen dienstlichen Verhalten zu beurteilen '). 
Aus dem Begriff des Dienstvergehens folgt, daß Handlungen des Be- 
amten, welche er vor seiner Anstellung begangen hat, nicht zum Ge- 
genstand eines selbständigen Disziplinarverfahrens gemacht werden 
können; dagegen können sie bei der Strafausmessung berücksichtigt 
werden, insoweit sie für die Beurteilung des Charakters und der Den- 
kungsweise des Beamten von Erheblichkeit sind ?). 
5. Ueber das Verhältnis des Disziplinarverfahrens 
zu dem Öffentlichen Strafverfahren gelten folgende Re- 
geln. Begrifflich besteht zwischen ihnen gar kein innerer Zusammen- 
hang; beide sind in ihren Voraussetzungen, Zwecken und Wirkungen 
von einander ganz unabhängig, und es ist daher ebensowohl möglich, 
daß das eine Verfahren eintritt, ohne das andere nach sich zu ziehen, als 
daß beide mit einander kumuliert werden). Aus Zweckmäßigkeits- 
rücksichten ist es aber ausgeschlossen, daß beide Verfahren gleich- 
zeitig neben einander stattfinden. Es liegt sowohl in dem Interesse 
des Beamten, als in dem der Strafjustiz, daß nicht dieselbe Handlung 
zum Gegenstand einer doppelten Untersuchung gemacht wird; abge- 
sehen davon, daß die strafrichterliche Entscheidung jedes Disziplinar- 
verfahren überflüssig machen kann. Es ist demnach im 8 77 des 
Reichsgesetzes angeordnet worden, daß im Laufe einer gerichtlichen 
Untersuchung gegen den Angeschuldigten ein Disziplinarverfahren 
wegen der nämlichen Tatsachen nicht eingeleitet werden darf, und 
daß das Disziplinarverfahren, wenn im Laufe desselben wegen der 
1) Bei einer Aenderung der Gesetzgebung über die disziplinarischen Folgen einer 
Tat müssen diejenigen Grundsätze zur Anwendung kommen, welche zur Zeit der 
Verübung in Geltung standen; nur aus Billigkeit wird das spätere Gesetz anzuwenden 
sein, wenn es das mildere ist. Vgl. die (württemb.) Zeitschrift für die freiwill. Ge- 
richtsbark. und die Gemeindeverwaltung Bd. 34, S. 154 ff. 
2) Entsch. des Preuß. OVGer. v. 30. März 1892 Bd. 22, S. 423. Vgl. v. Rhein- 
babena.a. O.S. 71, dessen Einwendungen gegen dieses Urteil ich aber für nicht 
begründet halte. 
3) Beachtenswerte, wenngleich das wahre Verhältnis nicht völlig treffende Be- 
merkungen darüber finden sich in den Vorarbeiten zum preuß. Strafgesetzbuch: näm- 
lich indem Promemoria vom 13. Oktober 1847 v.Madihn, vv Ammon 
und Grimm. Auszüge daraus bei Beseler, Kommentar zum preuß. Strafgesetz- 
buch S. 547; vgl. ferner Goltdammer, Materialien I, S. 137 ff., II, S. 667.
	        
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