Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

8 7. Staatenbund und Bundesstaat. 61 
Die einzelnen Gliedstaaten sind nicht in dem Sinne mediatisiert, 
daß sie einem von ihnen oder einem Fremden unterworfen sind, son- 
dern sie sind vereinigt zu einem Gemeinwesen höherer Ordnung. Sie 
sind nicht einem, von ihnen verschiedenen physischen Herrn, 
sondern einerideellenPerson, derenSubstratsie selbst 
sind, staatlich untergeordnet. So wie in der einfachen Demokratie 
jeder Bürger Untertan, d. h. Objekt der Staatsgewalt, und doch zu- 
gleich mitbeteiligt an der souveränen Gewalt ist, so ist in dem Bundes- 
staat jeder Gliedstaat für sich betrachtet, Objekt der Reichsgewalt, als 
Mitglied der juristischen Person des Bundesstaats betrachtet, anteils- 
mäßig berechtigtes Subjekt der Reichsgewalt. Der Anteil ist nicht nach 
Art der Sozietät oder des Miteigentums ein Sonderrecht der Glied- 
staaten, die Hoheitsrechte des Reiches stehen nicht pro diviso oder pro 
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reiche Schriftsteller dieses Erfordernis für kein wesentliches erachtet oder die 
Organisation der Bundesgewalt für begrifflich gleichgültig erklärt. Nachweisungen 
aus der Literatur in großer Anzahl bei Brie, Bundesstaat I, S. 175 ff. Ferner Jelli- 
nek, S. 284 ff., dessen Ausführungen auf der von ihm aufgestellten Fiktion beruhen, 
daß die Gliedstaaten Schöpfungen des Bundesstaates seien; auch Schulze, Deut- 
sches Staatsrecht I, S. 47 und Rosin, Annalen 1883, S. 304. Dagegen ist die An- 
teilnahme der Gliedstaaten an der Zentralgewalt als ein wesentliches Begriffsmoment 
des Bundesstaates anerkannt von Mejer, Einleitung S. 23; Brie in Grünhuts Zeit- 
schrift Bd. 11, S. 155 ff., Staatenverbindungen S. 80, 117; Gareis, Allgemeines Staats- 
rechtS. 110; Bake S. 185; Stöber, Arch. für öffentliches Recht I, S. 646 u.a.; An- 
schütz, Enzykl. S. 463. In sonderbarer Uebertreibung hat Zorn in der Tübinger 
Zeitschrift 1881, S. 317 fg. und in Hirths Annalen 1884, S. 461, 480 die „föderativ 
organisierte Staatsgewalt“ für das alleinige Merkmal des Bundesstaates erklärt, 
d. h. das Kriterium des Staatenstaates gestrichen. Indem Zorn den Gliedstaaten 
die Eigenschaft von Staaten überhaupt bestreitet und sonach die Kategorie des zu- 
sammengesetzten Staates verwirft, ist für ihn der Bundesstaat identisch mit einem 
„pleonarchisch organisierten“ Staat, d. h. mit einem Staat, in welchem mehrere Per- 
sonen zusammen Träger der Staatsgewalt sind. Diese Begriffsbestimmung paßt nicht 
auf den Bundesstaat, sondern auf die Gesamtherrschaften, Ganerbschaften und Kon- 
dominate der früheren Zeit: ihr zufolge wäre Schleswig-Holstein unter dem preu- 
Bisch-österreichischen Kondominat ein Bundesstaat gewesen! Merkwürdigerweise hat 
Zorn in der 2. Aufl. seines Staatsrechts I, S. 73 meine Ausführungen so vollkommen 
mißverstanden, daß er glaubt, ich mache ihm den Vorwurf, daß er die Anteilnahme 
der Bundesglieder an der Zentralgewalt als ein Begriffsmoment des Bundesstaates 
leugne.() Die von Zorn entwickelte Theorie hat mit einigen Modifikationen an 
Borel einen Anhänger gefunden; der letztere hat ihr aber eine bestimmtere Ge- 
stalt gegeben. Darnach sind die Einzelstaaten keine Staaten, sondern Kommunalver- 
bände, welche vom Gesamtstaat erschaffen sind und deren er sich als seine Organe 
bedient, welche aber von den Kommunalverbänden des Einheitsstaates sich dadurch 
unterscheiden, daß sie an der Erzeugung des Willens des Gesamtstaates Anteil 
nehmen, und zwar „comme une classe d’eleceteurs independants en opposition & de 
simples distriets electoraux.“ Borel hat aber nach mündlicher Mitteilung seine 
Theorie als irrig erkannt und sich der meinigen angeschlossen. Die Auffassung von 
Zorn liegt auch der Theorie von Le Fur zugrunde, welcher konsequenterweise aus- 
au oklich anerkennt, dab der Unterschied zwischen dem einfachen Einheitsstaat und 
will undesstaat allein in dem Anteil der sogenannten Gliedstaaten an der staatl. 
ensbildung liegt S. 589 ff., 601 ff., 673 ff.
	        
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