Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

62 $ 8. Fortsetzung. Kritik entgegenstehender Ansichten. 
indiviso den Einzelstaaten zu, sondern der Anteil der Einzelstaaten 
besteht lediglich in der Mitgliedschaft am Reich und in dem 
hierauf beruhenden Recht, an dem Zustandekommen und der Betäti- 
gung des Willens des Reiches Teil zu nehmen und mitzuwirken. 
8 8. Fortsetzung. Kritik entgegenstehender Ansichten. 
Von der hier entwickelten Begriffsbestimmung sind in der juristi- 
schen Literatur sehr abweichende Theorien in großer Zahl und mit 
vielfachen Modifikationen aufgestellt worden '). Für eine vollständige 
Aufzählung und Kritik derselben ist hier nicht der geeignete Ort?); es 
müssen jedoch diejenigen erörtert werden, welche für die juristische 
Charakterisierung des Reiches und des Verhältnisses des Reiches zu 
den Einzelstaaten von Bedeutung sind. 
1. Nach der von Waitz aufgestellten Begriffsbestimmung, die bis 
in die neueste Zeit?) die fast ausschließliche und unbestrittene Herr- 
schaft behauptete, besteht das Wesen des Bundesstaates in der Tei- 
lung der Souveränität. Auf gewissen Gebieten des staatlichen 
Lebens sei der Gesamtstaat, auf gewissen anderen Gebieten der Einzel- 
staat souverän; Gesamtstaat sowohl wie Einzelstaat seien wirkliche 
Staaten und es sei für jeden Staat das erste Erfordernis, daß er selb- 
ständig sei, unabhängig von jeder ihm selbst fremden Gewalt. »Nur 
da ist ein Bundesstaat vorhanden, wo die Souveränität nicht dem einen 
und nicht dem anderen, sondern beiden, dem Gesamtstaat (der Zentral- 
gewalt) und dem Einzelstaat (der Einzelstaatsgewalt) jedem innerhalb 
seiner Sphäre zusteht<«*). Versteht man unter Souveränität aber die 
1) Ueber die Dogmengeschichte des Bundesstaatsbegriffes vgl. die höchst sorg- 
fältige Darstellung von Brie, Der Bundesstaat, I. Abteilung, Leipzig 1874. Vgl. 
ferner die gelehrte und änziehende Darstellung bei Gierke, Johann Althusius (Bres- 
lau 1880), S. 245 ff. und über die neuere Literatur Borel, S. 104fg. und Preuß, 
S. 33—86. 
2) Zu den Erörterungen, welche ich hier mit Stillschweigen übergehe, gehört 
das S. 55 angeführte Werk von Trieps. (Vgl. darüber Preuß im Arch. f. öff. R. 
Bd. 6, S. 581 ff. und Rehm, Kritische Viertelj. Bd. 33, S. 33, S. 389 fg.); ferner Bru- 
nialti, der sich durchweg in ganz unselbständiger Weise an Jellinek anschließt; 
sodann Affolter, Grundzüge des Allgem. Staatsr. (1892), S. 53 ff., dessen Ausfüh- 
rungen bedeutungslos sind; endlich die Vertreter der sogenannten empirischen 
Staatsauffassung, mit denen eine Auseinandersetzung in dem engen Rahmen der hier 
gegebenen Darstellung nicht möglich ist. Vgl. die richtige Würdigung dieser Schule, 
welche Jellinek, Syst. der subj. öffentl. Rechte, S. 12 ff. gibt. Daß ich die ro- 
mantische Schrulle von A. v. Ruville, Das Deutsche Reich ein monarchischer Ein- 
heitsstaat, Berlin 1894, die von der Fortdauer des heiligen Römischen Reichs deut- 
scher Nation ausgeht, hier unberücksichtigt lasse, bedarf wohl keiner Rechtfertigung. 
3) D. hı. vor dem Erscheinen desersten Bandes der ersten Auflage dieses Werkes, 
1876. 
4) Waitz, Politik S. 166. Er sagt: „Nur der Umfang, nicht der Inhalt 
der Souveränität ist beschränkt“; aber er sagt nicht, wodurch sich eine Beschränkung 
des Umfangs von einer Beschränkung des Inhalts unterscheide; beides ist genau das-
	        
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