Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

70 & 8. Fortsetzung. Kritik entgegenstehender Ansichten. 
juristische Bestimmtheit und verflacht ihn zu einem Synonym von 
Staatstätigkeit überhaupt. Während der Staat mit den Provinzial-, 
Kreis- und Gemeindeverbänden, ja sogar mit freiwillig gebildeten Ver- 
einen das gemein hat, daß sie eine umfassende Tätigkeit zur Verwirk- 
lichung der aus dem Zusammenleben der Menschen sich ergebenden 
Kulturaufgaben entfalten, steht das Recht, freie Menschen zum Gehor- 
sam zu zwingen, nur dem Staate zu. Weder die Gemeinde noch 
irgend ein gemeindeähnlicher Verband hat dieses Recht als ein eigenes, 
auf sich selbst beruhendes und nach freiem Willen auszuübendes. Eine 
Gemeinde mag befugt sein, Polizeiverordnungen, Steuerverordnungen 
u. s. w. zu erlassen; Erzwingbarkeit erhalten dieselben immer 
nur durch das Gebot des Staates. Gemeinden können auf einem 
großen Gebiet des politischen Lebens ein eigenes Recht zur Verwaltung, 
zur autonomischen Festsetzung von Statuten, ja selbst zur Rechtspre- 
chung haben; sobald es aber darauf ankommt, ihren Befehlen G e- 
horsam zu verschaffen, muß entweder die zuständige Behörde des 
Staates darum angegangen werden oder dem Kommunalverbande muß 
vom Staate die Handhabung seiner Herrschermacht für gewisse An- 
wendungsfälle übertragen sein!.. Wenn die Gemeinde befugt ist, 
mit Rechtskraft (Erzwingbarkeit) zu befehlen und ihre Befehle nötigen- 
falls mit Gewalt durchzuführen, so handelt sie im Namen und Auftrag 
des Staates, in Stellvertretung oder kraft Delegation desselben; es 
ist nicht ihre Macht, sondern die des Staates, welche sie in Be- 
wegung setzt; es ist nicht ihr eigenes Recht, sondern ein fremdes, 
welches sie geltend macht‘). Die Gemeinde hat keine Untertanen, 
sie ist bei Ausübung ihrer Rechte ebenso machtlos wie der Gläubiger 
seinem Schuldner gegenüber, Rechtshilfe, d.h. Vollstreckungsgewalt 
findet sie einzig und allein beim Staate®). Das Mittel, durch welches 
1) Man darf m. E. nicht, wie Jellinek, Staatenverbindungen S. 40 und öfters, 
die Befugnis, „bindende Normen zu erlassen“, als den eigentlichen Inhalt des staat- 
lichen imperium erklären. „Bindende Normen“ kann jedes Testament, jeder Vertrag, 
jeder Korporationsbeschluß, jedes Gemeindestatut, jeder Akt der Autonomie enthalten. 
Aber die Befolgung der „bindenden Norm“ mit eigener rechtlicher Macht gegen freie 
Menschen zu erzwingen, ist die ausschließliche Prärogative der Staatsgewalt. 
In seiner Schrift, Gesetz und Verordnung, Freiburg 1887, hat Jellinek S. 190 fe. 
eine Ansicht ausgeführt, welche der hier entwickelten nahekommt. 
2) Viele Schriftsteller schreiben der Gemeinde eigene Herrschaftsrechte und eine 
eigene Zwangsgewalt zu und berufen sich darauf, daß viele Gemeinden älter sind als 
die Staaten, zu welchen sie gehören. Dies ist eine historische Betrachtung, aber 
keine juristishe.e Rechtlich bestehen alle Gemeinden nur durch den Willen des 
Staates. Der Staat gibt ihnen durch die Gemeindeordnung die rechtliche Existenz, 
die Verfassung, die Zuständigkeit, die Rechte und Pflichten und er kann einseitig 
alles dies durch eine Abänderung der Gemeindeordnung umgestalten; der Staat kann 
neue Gemeinden bilden, bestehende teilen, zusammenlegen, vernichten. Die Gemein- 
den haben keine öffentlichen Rechte als die ihnen vom Staat verliehenen. 
3) Ebensowenig kann man daher den „Gesamtpersönlichkeiten“ und Korporatio- 
nen des Privatrechts eine „Herrschaft“ über ihre Mitglieder zuschreiben, wie dies 
namentlich Gierke an zahlreichen Stellen seiner Schriften tut. Ihm folgen hierin
	        
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