Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

$ 8. Fortsetzung. Kritik entgegenstehender Ansichten. 77 
die aus der früheren Zeit herrührenden Landesgesetze und Staatsver- 
träge, die Staatsschulden, die Anstellungen der Landesbeamten usw. 
verbindliche Kraft behalten haben; wie überhaupt die von niemandem 
pisher in Zweifel gezogene Kontinuität der Staatsgewalt in den Einzel- 
staaten hinsichtlich der Zeit vor und nach der Reichsgründung mit 
seiner Theorie in Einklang zu bringen ist. Der unvermeidlichen Kon- 
sequenz, zu welcher seine Ansicht führt, daß das Reich kraft seiner 
unbeschränkten und unbeschränkbaren Souveränität die von ihm selbst 
geschaffenen Unterabteilungen nach Belieben müsse umgestalten oder 
aufheben können, weicht er durch die ganz willkürliche Behaup- 
tung aus, daß der vom Reich vorgenommene Rechtsakt der Schöpfung 
seiner Gliedstaaten eine »Tatsache« sei, an der die Möglichkeit einer 
Verfassungsänderung ihre Grenze habe '). Eine Konstruktion des Bun- 
desstaates, welche sich darauf beschränkt, den staatlichen Charakter 
und die souveräne Gewalt der Bundesmacht zu behaupten und die 
staatliche Qualität der Gliedstaaten zu verneinen, ist wertlos, denn sie 
läßt das eigentliche Problem, die Stellung der Gliedstaaten innerhalb 
des Gesamtstaates positiv zu charakterisieren, ungelöt. Zorn 
selbst macht auch von seiner Konstruktion des Bundesstaates den 
allein möglichen Gebrauch, nämlich er ignoriert sie vollständig. 
Nachdem er wiederholt erklärt hat, daß die dem Deutschen Reich an- 
gehörenden Staaten keine Staaten sind, behandelt er sie in seinem 
Lehrbuch des Reichsstaatsrechts durchweg als Staaten; er schreibt 
ihnen (S. 142) ausdrücklich den »Staatscharakter« zu und er bezeichnet 
sie ganz richtig als Träger des Staatswillens des Reichs, als »Mitglieder« 
des Reichs; er erkennt an (S. 344), daß der Erwerb der Reichsange- 
hörigkeit »durch das Medium der Einzelstaaten« zu erfolgen habe und 
daß der Einzelne nur Reichsangehöriger ist, »wenn und weil er An- 
gehöriger des Einzelstaates ist«; er setzt in vollständigem Anschluß an 
die von mir gegebene Darstellung den Gegensatz zwischen der Stel- 
lung des Reichslandes und derjenigen der Einzelstaaten auseinander, 
welcher darin gipfelt, daß das Reichsland »keine eigene Staatsgewalt« 
hat (S. 551 ff). Wenn nun Zorn den Einzelstaaten eine »staatliche 
Individualität«, »Staatsangehörige (Untertanen)« und eine eigene Staats- 
gewalt« beilegt, so nimmt er seiner Behauptung, daß sie trotzdem keine 
Staaten sind, jegliche Bedeutung’). 
1) Annalen 1884, S. 481. Ist nicht der Erlaß jedes Gesetzes und ist nicht jeder 
Verwaltungsakt u.s. w. ebenfalls eine „Tatsache?“ War nicht auch der Hinzutritt 
Elsaß-Lothringens und Helgolands zum Bundesgebiet, ja sogar der Gebietsaustausch 
zwischen Baden und der Schweiz von 1879 eine Veränderung der „tatsächlichen Vor- 
aussetzungen“, auf welchen die Reichsgründung beruhte? Gegen diese Behauptung 
von Zorn erklärt sich selbst BorelS. 195. 
Hinzelkn Orn ist offenbar nur dadurch zu seiner widerspruchsvollen Behandlung der 
v eränität 0 gekommen, daß er infolge eines falschen Souveränitätsbegriffs die Sou- 
sein als das wesentliche Begriffsmerkmal des Staates ansieht, dies im Laufe 
er Darstellung aber wieder aufgibt. Vgl. Rehm S 117g.
	        
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